8 Gründe, weshalb ich Noten für sinnlos halte

Es ist wieder Zeugniszeit. Die einen Kinder kommen stolz mit ihren Halbjahreszeugnissen nach Hause, andere trauen sich kaum heim, wiederum andere werden von nagenden Selbstzweifeln zerfressen. Weshalb ich als Lehrperson mit 35 Jahren Schuldienst grosse Fragezeichen hinter die Noten setze, trage ich in dieser unvollständigen Sammlung „8 Gründe, weshalb ich Noten für sinnlos halte“, zusammen. Voilà:

1. Noten sind nur eine Momentaufnahme

Wenn ein Kind sein Zeugnis in den Händen hält, stehen da für jedes Fach Noten. Noten, die sich aus mindestens drei Tests des vergangenen Semesters zusammensetzen, also seit Ende August. Macht das Sinn? Wenn das Kind im Sommer noch nicht Fahrrad fahren konnte und jetzt ist es ein absolut fähiger Cross Biker – würdest du dann heute sagen, dass es nur mässig gut Fahrrad fahren kann? Eben.

2. Noten blockieren das Lernen

Lernen ist ein Prozess, der durch Neugier und Freude genährt wird. Denken wir an die kleinen Knirpse, die laufen lernen. Sie probieren, tapsen vorwärts, taumeln, stürzen, rappeln sich wieder auf. Aufgeben? Niemals! Sie wollen sein wie die Grossen. Neue Fähigkeiten zu erwerben, Spannendes zu entdecken, dazu zu gehören, all das treibt sie an. Angstfrei unterwegs zu sein, täglich frisch anzufangen stärkt das Selbstwertgefühl. Mehr dazu gibts hier.
Noten bilden diesen Prozess nicht ab. Und wenn die Note am Tag X gesetzt wird und das Kind sinnbildlich gesprochen noch nicht laufen kann, wird die Note ungenügend. Obwohl es vier Tage später munter und zuversichtlich seine Wege gehen wird. Fair?

3. Noten blockieren das Lernen zum zweiten

Wer genau weiss, was an der Prüfung gefragt wird, wird sich genau diese Dinge merken. Bulimie-Lernen heisst das, wenn grosse Mengen Lernstoff möglichst erst am Abend vorher in den Kopf gehämmert wird und am nächsten Tag wieder – sorry für die Wortwahl – ausgekotzt wird. Das hat mit Lernen gar nichts zu tun. Zumal dieses Wissen auch nicht hängen bleibt. Es ist weder mit anderen Inhalten verknüpft, noch hat es emotional irgendeine Bedeutung. Schade.

4. Noten demotivieren (auch die guten Schüler*innen)

Wer weiss, dass er trotz aller Bemühungen nicht auf eine Vier kommen wird, gibt in aller Regel eines Tages auf. Vor allem auch sich selbst. Auf keinen grünen Zweig zu kommen, demotiviert unheimlich. Zu wissen, dass Eltern enttäuscht oder wütend sind, wenn die Noten nicht den Erwartungen (der Eltern!) entsprechen, macht hilflos und traurig. Kein gutes Gefühl für einen jungen Menschen.
Aber auch für starke Schüler*innen können Noten demotivierend wirken. Dann nämlich, wenn der Druck, auch im nächsten Test eine 6* zu schreiben, übermächtig wird und das Denken beherrscht.

* Hier in der Schweiz ist die 6 die beste Note, die 1 die schlechteste.

5. Noten beenden den Lernprozess

Die nie enden wollenden „Warum-Fragen“ kennen wohl alle, die mit jungen Menschen zu tun haben. Dieser Wissensdurst ist ein Motor, der vorantreibt, immer weiter, neue Ufer entdeckend. Ist aber das Wissensziel genau definiert und das, was darüber hinausgeht, nicht gefragt oder sogar unerwünscht, wird sich kaum ein Kind noch weiter mit der Materie beschäftigen. Logisch, nicht wahr?

6. Noten sind fehleranfällig

Bei Aufsätzen ist hinlänglich bekannt, dass die Bewertung des gleichen Textes von „ungenügend“ bis „sehr gut“ schwanken kann. Pech also für das Kind. Oder Glück – je nach dem. Dass aber auch in den Naturwissenschaften die Herleitung eines Endergebnisses total unterschiedliche beurteilt wird, dürfte vielen Lesenden neu sein. Ist aber so und drückt sich dann auch in der Notengebung aus. Zu dieser subjektiven Einschätzung kommt dann noch der sogenannte Halo-Effekt, der zu einer weiteren Verfälschung einer Note führen kann.

7. Noten bilden nicht die Fähigkeiten ab

Ich kenne mehrere Ärzte, die hervorragende Musiker sind. Ist das eine Zufall? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, wenn man bedenkt, dass beim Numerus Clausus der gesamte Notendurchschnitt des Maturitätszeugnisses miteinbezogen wird. Also sind eine 6 in Musik und Betriebswirtschaft durchaus von Vorteil, auch wenn diese nicht zu den Kernkompetenzen eines Chirurgen zählen. Um bei einer Hirnblutung die nötigen Entscheidungen zu treffen und die Blutung zu stoppen ohne den grauen Zellen unnötigen Schaden zuzufügen, sind sie aber nicht nötig.
Würde es nicht viel mehr Sinn machen, für gewisse Berufszweige Eignungstests zu machen?
Die „Stellwerktests„, die in der Schweiz im zweitletzten Schuljahr durchgeführt werden, sind ein Schritt in die richtige Richtung, weil auch Lehrbetriebe unterdessen gemerkt haben, wie wenig aussagekräftig Noten sind. Portfolios, auch E-Portfolios, wären eine weitere Möglichkeit um Interessen und Kenntnisse abzubilden.

8. Noten fördern nicht die Kompetenzen, die unsere Kinder in Zukunft brauchen

Wenn wir daran denken, mit welchen Problemstellungen sich Kinder, die heute am Anfang der Schulzeit stehen, in der Zukunft auseinandersetzen müssen, bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. Klimaveränderungen, Umweltverschmutzung, Bevölkerungswachstum, Hunger, Krankheiten… in der State of the Future Studie werden die 15 grössten globalen Herausforderungen aufgelistet. Vielleicht werden es noch mehr werden, wer weiss das schon?
Was wir aber wissen, ist, dass diese Herausforderungen nur gemeinsam gelöst werden können. Ganz schön zeigt sich das auch an der Liste der Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften: So sind in den letzten 40 Jahren kaum mehr Einzelpersonen sondern immer Teams ausgezeichnet worden – schlicht und einfach deswegen, weil so komplexe Fragestellungen nicht von einer Person allein gelöst werden können.
Es muss also ein Ziel sein, unsere Kinder zu Teamfähigkeit und Kollaboration hinzufügen. Das funktioniert aber nur, wenn wir den Bewertungsdruck herausnehmen und sich Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend in den Gruppenprozess einbringen können. Dafür ist auch Kommunikation eine wichtige Gelingensbedingung. Wer sich mit anspruchsvollen Fragestellungen auseinandersetzen muss, braucht kritisches Denken und die Kreativität, Sachverhalte aus neuen Perspektiven zu betrachten und sie mit ungewohnten Fakten zu verknüpfen. Das Üben dieser 4 K, wie sie bildungssprachlich auch genannt werden, verträgt sich absolut nicht mit der traditionellen Notengebung.

Neues Lernen braucht das Land

Unser Schulsystem ist leider in vielen Teilen in seinen Grundzügen immer noch sehr nahe am Ursprungsmodell. Es gleicht im Wesentlichen einem alten Haus, an dem immer wieder geflickt, renoviert und Unmengen von Zeit und Geld investiert wird. Macht das Sinn? Wäre es nicht effizienter und vor allem vielversprechender, das Gebäude rückzubauen und etwas Neues entstehen zu lassen?
Zum Glück denken mittlerweile zunehmend mehr Menschen in diese Richtung! Die Gespräche ums Lernen und die Sinnlosigkeit der Noten dürfen heute laut geführt werden, nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, wie vor 50 Jahren. Ja, auch damals gab es schon Menschen, die dies taten. Einer davon war mein 5./6. Klassenlehrer Otto Schmid – ihm ist es zu verdanken, dass ich Lehrerin geworden bin.

Wer sich weitere Gedanken zu Noten machen mag, dem sei zum Schluss ein Buchtipp verraten: Eine Schule ohne Noten, Björn Nölte/ Philipp Wampfler, hep Verlag.
Ein Praxisbuch, das es in sich hat!

Bild zVg hep-Verlag

Schlagwörter: 4K · Beurteilung · Noten · Schule · Zeugnis 

2 Gedanken zu „8 Gründe, weshalb ich Noten für sinnlos halte

  1. Von: Daniela Scheurer

    Oh, Dina, das hast du super zusammengefasst. Ich bin absolut gegen notentechnische Bewertungen in der Schule, weshalb ich meine Kinder nicht ins System gequetscht habe. Dafür hatte ich dann am Ende jedes Jahres ca. 25 Seiten Entwicklungsbericht zu lesen. Und das drei Mal! Und fein wars. Würde mich jederzeit wieder dafür entscheiden.

    Danke für diesen Artikel, ich werde ich wohl nächste Woche gleich teilen. Dann gibts bei uns Zeugnis!

    Antworten
    1. Von: Dina Mazzotti

      Liebe Daniela
      Danke sehr für deine Feedback! Ich freue mich, dass der Artikel hilfreich war und du ihn teilen wirst!

      Herzlich Grüsse
      Dina

      Antworten

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