Anreicherung des Unterrichts

Im vorletzten Blog habe ich über Curriculum Compacting, also die Straffung des Basislehrplans berichtet. Unterdessen bin ich von Lehrpersonen angesprochen worden, was denn eigentlich mit der freien Zeit, die daraus resultiert, geschehen sollte. Meine Standard-Antwort ist immer die gleiche: „Einfach nicht noch mehr vom Gleichen!“ Im Klartext, wer den Mathestoff beherrscht, soll nicht noch mehr Matheaufgaben bearbeiten. Wer gut liest, muss nicht Leseübungen machen- darf aber selbstverständlich in seinem „Harry Potter“- Buch lesen, auch wenn er erst ein Erstklässler ist.
Bei älteren Kindern bieten sich eigenständige Projekte an. Dazu komme ich weiter unten noch. Bei jüngeren und meist noch nicht so selbstständigen Kindern empfehle ich Gruppenarbeiten, weil die meisten Kinder in diesem Alter davon wirklich profitieren.  Auch wer seinen Klassenkamerad*innen weit voraus ist, kann in Gruppenarbeiten durch den verbalen Austausch oft Neues entdecken. Vielleicht bietet sich auch gerade eine der drei nachstehend erwähnten Möglichkeiten dazu an?

Abgestufte Gruppen / Binnendifferenzierung

Anstatt dass alle immer dasselbe tun, können Zugänge und Komplexität variiert werden. Das funktioniert im Klassenzimmer recht gut, wenn eine genügend grosse Bandbreite an Fähigkeiten vorhanden ist. Dazu teilt man die Kinder aufgrund ihres erreichten Niveaus in Gruppen ein.

Im Lesen könnte z.B. eine Gruppe daran arbeiten Buchstaben zu erkennen, eine andere daran, Buchstaben zu Worten zu bilden und eine dritte am Weiterführen von Geschichten. Eine vierte Gruppe, oder auch ein einzelnes Kind, kann selbständig lesen.
Im Bereich Rechtschreiben könnte die eine Gruppe ihre Wörter lernen, während eine zweite Gruppe aus diesen Worten Sätze formt, eine dritte Gruppe Worte in Rätseltexten versteckt und jemand mit weit fortgeschrittenen Kenntnissen im Wörterbuch nach Synonymen sucht, die dann zu Versen und Reimen verarbeitet werden.
Man könnte abgestufte Gruppen auch aufgrund des abstrakten Denkvermögens bilden. Geht es z.B. um Geld, können die einen Schüler*innen Rappen zählen, während die anderen den Wert der Münzen kennenlernen. Wer dies schon kann, spielt im Kaufmannsladen, entscheidet, was aus einem Katalog mit welchem Geld gekauft werden kann oder übt sich im Geldwechseln. Variiert werden könnte auch mit Fremdwährungen. Auf diese Weise drehen sich drei oder vier Aufgaben um den gleichen Inhalt, aber werden sukzessive schwieriger und komplexer.
Gruppeneinteilungen sollen flexibel gehandhabt werden und je nach Lektions-inhalt, Bedürfnissen und Fähigkeiten der Schüler*innen auch geändert werden können.

Interessengruppen

Manchmal stellt man fest, dass einige Kinder dieselben Vorlieben und Interessen haben. Wenn diese ihre Lernziele erreicht haben, sollte ihnen erlaubt werden, in dieser Gruppe in ihrem Interessensgebiet zu arbeiten.

Lese-Interessengruppen könnten ihr Augenmerk auf einen bestimmten Autor oder eine Geschichten-Reihe legen, z.B. Märchen, die Rolle von Freunden in Geschichten oder Geistergeschichten.
In Mathematik könnten Interessengruppen in Puzzles , Tangrams, Pentominos, Sudokus, Logicals und ähnlichem arbeiten.
Als Klassenlehrerin habe ich gerne Tic-Tac-Toe-Menus als Planungsinstrumente eingesetzt. Diese haben sich meist sehr bewährt. Das untenstehende Beispiel zeigt, wie mit einer Schüler*innengruppe ein erweitertes Lernfeld zu Bären in verschiedenen Geschichten generiert hat, das sich ganz leicht adaptieren lässt.

Der Einsatz des Tic Tac Toes mit Schülern, Anleitung für Lehrpersonen

  1. Hilf einer Gruppe eine Auswahl möglicher Aktivitäten zu erstellen.
  2. Wähle Aktivitäten aus, von denen du glaubst, dass sie den Schülerinteressen und -fähigkeiten entsprechen. Schüler können dazu Anregungen geben.
  3. Freie Felder ermöglichen den SuS, selber Ideen einzubringen.

Tic-tac-toe-Menu: Bären in Geschichten

1. Zeichne eine Bärengeschichte2. Spielt die Geschichte.3. Erzähle die Geschichte mit eigenen Worten
4. Sprich mit anderen Kindern darüber, wie ihnen die Geschichte gefällt.5. Lerne ein Bären-Gedicht und trage es der Klasse vor.6. Löse ein Bären-Kreuzworträtsel oder vervollständige ein Punkt-Bild über Bären
7. Hör dir eine Bärengeschichte ab CD an. Sprecht darüber, was in den Geschichten ähnlich oder ganz anders ist.8. Baue eine Bärenhöhle. 9. Erfinde ein neues Ende für die Geschichte.

Verzweigungen

Verzweigungen ermuntern Schüler*innen Inhalte aus verschiedenen Disziplinen, Themen und Intelligenzen zu erkunden. Sie bieten gleichzeitig Anreicherung und Vertiefung. So könnte z.B. anstatt Herbstblätter bloss anzusehen der Prozess der Fotosynthese thematisiert werden. Ein hochbegabtes Kind kann hier vielleicht Anknüpfungspunkte für den Austausch mit Eltern, Mentoren oder Fachpersonen finden. Manchmal reicht ja ein einzelner Satz, der wieder Initialzündung für weiteres Tun sein kann. Es könnten aber auch die Veränderungen der Jahreszeiten beobachtet werden und wenn die Farben zur Sprache kommen, wären Primär- und Sekundärfarben Thema: Farbkreis, kalte und warme Farbtöne, Schattierungen und Nuancen, weitergehende Entdeckungen zu den Grundfarben: mit Rot werden Rubinrot, Scharlachrot, Kirschrot, Rotbraun und Purpur eingeführt, mit Blau Marinblau, Wasserblau, Himmelblau und Königsblau.

Selbstverständlich können die oben genannten Angebote mit individuellen Anleitungen sowohl für Einzelarbeiten als auch als Gruppenarbeiten initiiert werden. Nachfolgend noch einige andere Vorschläge, wie das Lernen für Kinder, die gern selbständig arbeiten, gestaltet werden könnte.

Andere Standpunkte einnehmen

Dieses Erweiterungsangebot passt leicht in Lektüre-Angebote. Beim Durch-arbeiten stellt man vielleicht fest, dass einige Schüler*innen die Geschichte schon gut kennen. Diese Kinder brauchen definitiv keine erneute Vertiefung und Klärung des Textes – ausser sie wollen dies. Diesen Kindern könnte beispielsweise die Aufgabe gegeben werden, eine Geschichte aus einer anderen Optik zu erzählen. Wenn Aschenputtels Stiefmutter die Geschichte ihrer Stieftochter und dem Prinzen erzählen würde, wie würde sich diese anhören? Wenn Rotkäppchen in der Stadt wohnen würde, wen würde sie besuchen? Welchen Gefahren wäre sie ausgesetzt? Wer würde sie bedrohen? Von wem würde sie gerettet? Wenn du die Geschichte vom Löwenkönig neu schreiben würdest, wie würdest du sie verändern?
Wenn Schüler*innen Mühe mit Schreiben haben, können die Ideen auch mit Aufnahmegeräten festgehalten werden.

Fachexperte

Für PrimarschülerInnen, die bereits das Meiste einer Lerneinheit wissen, kann selbständiges Lernen und „Fachexperte“ werden eine Lösung sein. Diese Schüler*innen brauchen die Flexibilität in einem Interessengebiet forschen zu dürfen. Bekommen sie die Chance, ihre Neugierde zu befriedigen, können sie riesige Mengen an Informationen entdecken und verarbeiten.

Schritte zum Fachexperten

  1. Befragung und Beobachtung der Schüler*innen um die stärksten Interessensgebiete zu bestimmen.
  2. Hilfestellungen geben, wenn es darum geht, ein Forscherthema zu finden. (Das „Was ich gern mache-Formular“, das man auch bei mir anfordern kann, kann nützlich sein.) Schüler*innen sollen überlegen, wo sie zum gewählten Thema Informationen bekommen: Lesen, Befragen, Exkursion, Interviews oder Experimente. Hilfe beim Zusammenstellen von Büchern oder anderem Material.
  3. Einen Platz, an welchem die Schüler*innen ihr Material aufbewahren und brauchen können.
  4. Ermutigung, sich ins Material zu vertiefen, wann immer Zeitlücken entstehen.
  5. Abgeben des Blattes „Wie ich zum Experten werde“ und Hilfe beim Ausfüllen der ersten zwei Abschnitte davon.
  6. Zwischenbesprechungen
  7. Hilfestellung beim Treffen einer engeren Auswahl
  8. Unterstützung beim Zusammenstellen von Informationen und den Überlegungen, wie diese der Klasse mitgeteilt werden sollen. Diese Überlegungen dann im dritten Abschnitt des Formulars eintragen.
  9. Regelmässige Fixpunkte um den Fortschritt des Projekts zu überprüfen.
  10. Planung und Ausarbeitung einer Präsentation.

Um Erwartungen und Ziele genau zu bestimmen, empfiehlt sich ein Vertrag mit den Schüler*innen. Dieser wird durch das Thema, das Vorwissen und den Grad der Selbständigkeit der Schüler*innen bestimmt. Gemeinsam sollen realistische Ziele für das Projekt, das Produkt und das Datum der Fertigstellung gesetzt werden. Achtung: Wenn das Projekt zu lange dauert, kann es sein, dass das Interesse daran verloren geht. Beispiele von Verträgen für jüngere und ältere Schüler*innen können gerne bei mir erfragt werden.

Tic-Tac-Toe-Interessenfelder

Das Tic-Tac-Toe-Raster für einzelne oder ganze Gruppen stellt ein Modell zur Planung und Ausführung selbständiger Tätigkeiten dar.

Vorgehen bei Einzelarbeit:

  1. Dem Kind Unterstützung bei der Menü-Planung geben oder ihm ein Menü vorschlagen.
  2. Die vom Kind gewählten Aktivitäten ins Formular eintragen.
  3. Wenn gewünscht, einige Felder leer lassen, damit das Kind später noch verwandte Aspekte einfliessen lassen kann.

Den Schüler*innen vertrauen

Selbständiges Tun wirkt von aussen oft eher unstrukturiert. Es scheint mir extrem wichtig, den Schüler*innen das Vertrauen zu schenken, dass sie ihre Zeit produktiv einsetzen. So werden sie lernen, dass die Schule ein Ort ist, an dem Leidenschaft ihren Platz hat und man Gelegenheit bekommt, Dingen, die eine wirklich interessieren auf den Grund zu gehen, wo Intelligenz und Kreativität ihren Freiraum bekommen. Wie an anderer Stelle auch schon mehrmals erwähnt, wissen Kinder intuitiv sehr genau, wie wichtig ihre Zeit ist und es ist nicht immer Sache von uns Lehrpersonen zu entscheiden, welche Tätigkeit für ein Kind gerade sinnvoll ist- im Ramen der üblichen Klassenzimmerregeln wohlgemerkt…

Erreichtes Dokumentieren und Anreicherungen planen

Es ist wichtig, dass gestraffte Inhalte, erreichte Ziele und Erweiterungsangebote dokumentiert werden.Ein Plan – Professor Joseph Renzulli spricht von Compactor, ich D.M. von Entrümplungsplan- hilft, sich gegenüber Eltern, Behörden und letztlich auch sich selbst gegenüber auszuweisen. Es ist wichtig, die Eltern über dieses Vorgehen zu informieren! Die meisten finden dies gut, sind sogar beeindruckt, wenn sie sehen, was ihre jungen Kinder bereits können und lernen. Dazu gibt es auch einen Briefvorschlag, wie er zur Information den Eltern abgegeben werden könnte („Das wird Sie interessieren“), den ich auf Anfrage, auch gern abgebe, genau so wie den oben erwähnten Entrümplungsplan.

Ich bin überzeugt, dass wir mit Enrichment die Motivation der Schüler*innen ganz entscheidend anheben können und sie gleichzeitig zu selbstständigem Lernen hinführen, welches in Gymnasien und Ausbildungen so vehement gefordert wird und wünsche meinen Kolleg*innen, die im Moment unter massiv erschwerten Bedingungen ihr Bestes geben, viel Energie und Mut, auch ungewohnte Wege couragiert zu beschreiten! Für Umsetzungshilfen stehe ich gern zur Verfügung.

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