Begabte Kinder fördern sich selbst – oder?

Ein Statement, das mir in meiner Arbeit immer wieder begegnet ist: „Ach, die Lisa braucht keine besondere Intervention meinerseits. Wenn die schon so hochbegabt ist, dann fördert die sich bestimmt schon selber.“ Diese Aussage kommt bevorzugt von Lehrpersonen. Längst nicht von allen. Und schon gar nicht an „meiner“ Schule- da ist viel Bewusstsein für die speziellen Bedürfnisse dieser Kinder vorhanden.
Ich höre diesen Satz aber auch von Eltern, allerdings mit Fragezeichen am Schluss: „Müsste sich Lisa denn im Unterricht nicht selber beschäftigen können, wenn sie schon hochbegabt ist?“
Beide Varianten kriegen von mir ein klares Nein. Kein Kind muss sich selber fördern können. Dass sich Kinder ab einem gewissen Alter selber beschäftigen können, ja, das dürfen wir erwarten. Aber gerade Eltern wissen das: Was Kinder sinnvoll finden, deckt sich nicht immer mit ihren Ansichten. Ich weiss ja schliesslich auch, wie viele Meter Zahnpasta in der Tube sind… 3 Meter 42 cm. Im Klassenzimmer läuft auch so: Der Klassenclown macht eigentlich nichts anderes– er beschäftigt sich selber und unterhält nebenbei gerade noch die Kolleg*innen.

Nicht alle unterforderten Kinder fallen auf

Okay, der Klassenclown beschäftigt sich selber– heisst das jetzt, dass er der einzige potenzielle hochbegabte Lernende im Raum ist? Natürlich nicht! Nur fallen eben nicht alle Kinder auf, die einen werden depressiv oder aggressiv, andere bekommen psychosomatische Beschwerden oder wollen gar nicht mehr zur Schule. Tauchen solche Verhaltensweisen auf, ist es dringend angezeigt, genauer hinzuschauen.
Allerdings ist es wichtig zu wissen, dass Unterforderung und Überforderung, unter Umständen auch die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung ADHS sehr ähnliche Verhaltensweisen hervorrufen können. Es braucht hier schon ein geschultes, erfahrenes Auge um die Ursachen klar zu identifizieren.

Das Recht auf angemessene Förderung

Jedes Kind hat ein Recht darauf, die Zeit, die es in der Schule verbringt (manchmal ist man fast versucht zu sagen „verbringen muss“) als sinnvoll zu erleben. Während es allen am Lehrgeschehen Beteiligten sonnenklar scheint, dass leistungsschwache Kinder grösstmöglichen Support erhalten sollen, sieht das bei cleveren Kids oft schon ganz anders aus. Dabei hat  die Uno-Generalversammlung vor dreissig Jahren in der Kinderrechtskonvention  schon geschrieben:.
„Jedes Kind der Welt hat ein Recht darauf, gesund und sicher aufzuwachsen, sein Potenzial zu entfalten, angehört und ernst genommen zu werden.“ 

Was können Eltern tun, wenn diese Förderung nicht passiert?

Wenn man als Eltern oder nahe Bezugsperson merkt, dass das Kind im Unterricht unglücklich ist, steht Ursachenforschung an. Tiefschürfende Ursachenforschung. Hier gilt es den passenden Moment zu erwischen. Meist ist es nicht jener, der für Eltern gerade der passendste ist- aber hey, es geht schliesslich um ihr Kind. Erfahrungsgemäss ist das Zeitfenster vor dem Schlafengehen, wenn noch ein bisschen gemeinsam gekuschelt wird, ein solcher.
Und stellt sich dann heraus, dass dem Kind während des Unterrichts chronisch langweilig ist, ist Handeln angesagt.
Der erste Schritt ist immer, das Gespräch mit der Lehrperson zu suchen. Ja, auch wenn es schwierig ist. Auch wenn der Gedanke daran einem den Atem nimmt. Vielleicht gibt es ja auch die Möglichkeit, der Lehrperson eine Mail zu schreiben?
Und vielleicht macht es auch Sinn, dann nochmals eine Nacht darüber zu schlafen. Aber es ist wichtig, dass mit der Lehrperson das Gespräch gesucht wird! 
Eltern sind Anwälte für ihr Kind. Wenn Eltern und Lehrpersonen sich bewusst sind, dass sie beide zum Wohl des Kindes Lösungen suchen, braucht es nämlich keine zusätzlichen Anwälte im Schulhaus. Im optimalen Fall reicht ein Gespräch bereits aus, um Massnahmen für das unterforderte Kind zu treffen. 

Alle Beteiligten einbeziehen

Wahrscheinlich wird die Lehrperson auch Fachlehrpersonen oder geschultes Förderpersonal wie die Schulische Heilpädagogin (SHP), den IF- Lehrer (Integrierte Förderung) oder wenn vorhanden die BBF-Spezialistin (Begabungs- und Begabtenförderung) ins Boot holen. Das macht Sinn und ist zum Besten für das Kind. Gemeinsam können sie mit dem Kind heraustüfteln, wie der Unterrichtsstoff angereichert oder reduziert wird, um den Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden. Manchmal reichen ganz simple Massnahmen, wie die Erlaubnis, zu lesen, wenn die Übungsaufgaben erledigt sind. Manchmal braucht es etwas mehr, wie ich es hier beschrieben habe.
Es ist wichtig, dass Eltern und Lehrperson in Kontakt bleiben, am gleichen Strang ziehen und das dem Kind auch deutlich machen.

Hinter dem Verhalten des Klassenclowns steckt oft viel Frust.

… und wenn es schwierig wird?

Wenn besprochene Massnahmen im Sand verlaufen oder gar nie Fahrt aufnehmen, wenn Eltern sich nicht ernstgenommen fühlen oder das Kind die Schule zunehmend als Qual erlebt, dann dürfen sich Eltern auch an die nächsthöhere Instanz, bei uns wäre dies der Schulleiter, wenden. Er wird im günstigsten Fall ein Rundtischgespräch mit allen (erwachsenen) Beteiligten durchführen und so eine „Auslegeordnung“ des Sachverhaltes vornehmen.

Hilfe holen

Wenn Eltern sich so ein Gespräch nicht zutrauen, kann es sinnvoll sein, eine*n Verbündete*n ins Boot zu holen; jemanden, der das Kind und die Situation kennt, die/der schon mit ihm gearbeitet hat und um seine Stärken und Schwächen weiss. Vielleicht können auch schon gemeinsam Strategien und Vorgehensweisen erarbeitet werden, wie das Kind im Klassenzimmer optimal gefördert werden kann. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass die abwehrende Haltung mancher am Unterricht Beteiligter auch aus Angst resultiert, Angst, dass ins Unterrichtsgeschehen eingegriffen wird, Angst nicht gut genug zu sein, Angst, dass ein Kind mehr weiss als die Lehrperson… Hier muss dringend ein   Paradigmenwechsel stattfinden!

Was können Schulen tun, wenn hochbegabte Kinder im Unterricht dabei sind?

Wichtig scheint mir, einen ressourcenorientierten Ansatz zu verfolgen. Also nicht mehr vom Gleichen, sondern vertiefen, verbreitern und vor allem anreichern des neuen Lehrstoffes!  Wie das funktionieren kann, kann man z. B.  hier nachlesen. Oder hier. Und kurzzeitig ist es auch durchaus legitim, einem unterforderten Kind einfach Zeit zum Lesen in seinem Buch zu geben! Hauptsache, das Kind fühlt sich in seinen Bedürfnissen gesehen und ernst genommen.

Interessierte Lehrpersonen werden auf diesem Blog eine Menge Inspiration über Fördermassnahmen finden. Natürlich sind diese Artikel allgemein gehalten und ersetzen niemals das persönliche Gespräch und den Austausch vor Ort. Wenn dies gewünscht ist, freue ich mich über Ihre Kontaktnahme.

Ein Gedanke zu „Begabte Kinder fördern sich selbst – oder?

  1. Von: Christine Frachet-Hildebrandt

    Was für ein guter und wichtiger Beitrag. Ich habe 13 Schuljahre meinen begabten Sohn begleiten “müssen”. Und was die Schule betrifft, war das alles andere als einfach. Hilfe haben wir weder in der Schule noch woanders erfahren, sogar mit einer Autismusdiagnose bin ich konfrontiert worden. Aber ich wusste immer, wenn ich das Kind heile durch die Schule bekomme, wird er seinen Weg machen. Und so ist es gekommen. Ich schreibe das, um Mut zu machen, dass sich der Kampf lohnt und jede Anstrengung nicht vergebens ist, auch wenn es manchmal nicht so aussieht. Ich hatte ein glückliches Kind bis zum Schuleintritt und jetzt 6 Jahre nach Beendigung der Schule ist er schon länger wieder ein glücklicher Mensch. Danke an alle, die für begabte Kinder eintreten. Sie haben es bitter nötig. Liebe Grüße, Christine Frachet-Hildebrandt

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