Öfters mal werde ich gefragt: „Muss man eigentlich hochbegabt sein, um hochbegabte Kinder zu unterrichten?“ oder schlicht und einfach direkt „Bist du auch hochbegabt?“.
Werden eigentlich Zahnärzte auch gefragt, ob sie Löcher in den Zähnen haben oder Metzger, ob ihnen das Schlachten Spass bereitet?
Um die Antwort, meine Antwort, vorweg zu nehmen: Ich denke nicht, dass man selber hochbegabt sein muss. Aber Interesse an Kindern, an ihren Themen und Forschungsgebieten haben, ist unabdingbar. Auch das Eingeständnis, dass man als Erwachsene, als Lehrperson nicht immer alles weiss, auch nicht wissen muss, sollte einem keinen Zacken aus der Krone fallen lassen. Perfektionismusgehabe ist da fehl am Platz, Mut zur Lücke gefragt und das Wissen, wo und wie man sich Antworten auf schwierige Fragen holen kann, essentiell.
Ein kleiner Rückblick
Ich hatte das Glück in einer nahezu heilen Welt aufzuwachsen. In einem Arbeiterquartier mit Mehrfamilienhäusern, wo ich auch als Einzelkind jederzeit viele andere Kinder traf, die mit mir spielten und auch stritten. In einem Quartier, das am Waldrand gebaut worden war und wo das Schulhaus nur wenige Schritte entfernt stand. Wir verbrachten unzählige Stunden im Wald, der besser zum Klettern geeignet war als der Kletterbaum auf dem Spielplatz und auf der verkehrsarmen Quartierstrasse, die wir mit Gummitwist und Kreidemalereien als unsere Bewegungs- und Kreativplattform nutzten.
Klar war es eine andere Zeit damals, vor über 50 Jahren, ich will das auch gar nicht verherrlichen und glorifizieren. Aber es war eine Zeit, die mich gelehrt hat, aus wenig viel zu machen, kreativ und erfinderisch zu sein und den Wert von Freundschaften und Vielfalt, heute würde man sagen, Heterogenität, unserer Kindergruppen zu schätzen.
Ich hatte das grosse Glück in unserem Quartierkindergarten bei einer Kindergärtnerin eingeteilt zu werden, die uns Kinder so nehmen konnte, wie wir eben waren, die umsichtig dafür gesorgt hat, dass die ihr anvertrauten „Pflänzchen“ genügend Wasser und Nährstoffe erhielten, um in ihrem Tempo zu wachsen. Wie habe ich diese Zeit geliebt! Ich war ein sogenanntes „kann-Kind“, hätte also nach einem Jahr Kindergarten in die Schule gekonnt- aber ich wollte nicht. Ich habe meine Kindergärtnerin heiss geliebt (und habe ihr sogar noch letzten Sommer, also im Jahr 2020, eine Karte geschrieben- und Antwort bekommen! ) Ich wäre auch noch ein drittes Jahr in den Kindergarten zu „Fräulein Birrer“ gegangen. In die Schule zu kommen, erschien mir wenig erstrebenswert und obwohl mich meine Eltern immer in allen meinen Plänen unterstützt hatten, unternahmen sie wohl auch keine besonderen Anstrengungen, mich da irgendwie zuversichtlich zu stimmen. Das Zureden der Kindergärtnerin, dass ich dann viele Bücher lesen könne, lockte mich nicht. Was wollte ich mit Büchern, wenn ich den Wald und meine Rollschuhe hatte!?
Die rote Lederschultheke (unsere nördlichen Nachbarn nennen das Ding wohl „Tornister“ oder „Ranzen“), die wir in den Sommerferien in der Stadt kauften, lag den ganzen Sommer über unbeachtet in meinem Schrank, die Farben im Etui blieben unberührt.
Nun ja, es kam der Tag, an dem ich mich mit knapp vierzig anderen Kindern im Schulzimmer von Lehrer Stöckli wiederfand. Natürlich war ich aufgeregt. Aber Freude? Nein, Freude hätte sich definitiv anders angefühlt.
Ich erinnere mich, wie der Lehrer am ersten Schultag in grosser schwungvoller verbundener Schrift ein Wort an die Tafel schrieb und uns fragte, wer das lesen könne. Hä? Dieses Gekritzel sollte etwas bedeuten? Das konnte ich mir schlicht nicht vorstellen… Offenbar hiess es schon etwas, denn Roland, den ich aus dem Kindergarten kannte, hob die Hand und sagte laut und deutlich: „Das heisst „fleissig“!“ Boah, da war ich platt und auch ein bisschen eingeschüchtert. Woher wusste der das?
Nun ja, die Dinge nahmen ihren Lauf, schnell und mit Leichtigkeit lernte ich Lesen und Schreiben, wobei ich mit dem Schreiben mit dem Füller als Linkshänderin lange Zeit auf dem Kriegsfuss stand. Aber Lesen faszinierte mich, ich tauchte ein in fantastische Welten und hatte das grosse Glück, dass meine 3./4. Klass-Lehrerin Frau Stalder die Schulbibliothekarin war. Und da ich meine Aufgaben im Schulzimmer immer sehr rasch erledigt hatte, durfte ich während der Unterrichtszeit helfen, die Bücher in Ordnung zu halten, die Bibliothek aufzuräumen, ja sogar mitentscheiden, welche Bücher angeschafft werden sollten. Es war himmlisch! So wurde in mir der Grundstein zu einer lebenslangen Bücherliebe gelegt und das geschriebene Wort hat mich all die Jahre durchs Leben und herausfordernde Situationen getragen. Auch durch langweilige Schulstunden, von denen es dann später doch noch einige gegeben hat. Ich hatte meine ganz eigenen Techniken, wie ich auch ohne E-Reader (damals träumte man noch nicht mal von so etwas) sehr diskret auch im Unterrichtsraum lesen konnte.
Mein späterer Lehrer Otto Schmid war wohl der „Schuldige“, dass ich nach der obligatorischen Schulzeit ins Lehrerseminar gewechselt habe. Er war innovativ, hatte damals Ende der 70er Jahre schon in Denkgruppen zum Projekt „Sono“ (Schule ohne Noten, oder auch Schule ohne Noete) mitgemacht, hat uns, um tote Zeit aufzufangen Theater spielen und selber schreiben lassen, wir haben Horoskope berechnet, Ephemeriden abgelesen und Sternencharts gezeichnet- wie habe ich diese Zeit genossen! Schule war eine grossartige Ergänzung zum Tischtennistisch, dem Wald und natürlich dem Abtauchen in Bücherwelten. Als Lehrerin bin ich später in seine Fussstapfen getreten und habe in Rothenburg das Projekt GBF eingeführt. Ganzheitlich Beurteilen und Fördern lief phasenweise bis in die 4. Klasse, heute sind nur noch die Kinder bis zur 2. Klasse not(en)frei unterwegs.
Gearbeitet für die Schule habe ich nie wirklich. Auch nicht, als ich dann mit meinen Kolleginnen in Horw in die Sekundarschule kam. Dass ich nicht an die Kantonsschule (Gymnasium) gewechselt habe, war meiner Bequemlichkeit und dem Umstand, dass keine meiner Freundinnen dahin ging, geschuldet. Und obwohl der Gemeinderektor und mein Klassenlehrer eines Abends bei uns daheim aufkreuzten und meinten, ich hätte die beste Übertrittsprüfung aller Prüflinge der Gemeinde abgelegt und es sei doch vergeudetes Talent, wenn ich einfach in die Sekundarschule wechseln würde, blieb ich bei meinem Entschluss. Und meine Eltern, wohl froh, dass ich nicht den Weg eines teuren Studiums einschlagen wollte, haben nichts unternommen, mich umzustimmen. Einen Vorwurf mache ich ihnen dafür nicht. Für meine Mutter war es schon ein Meilenstein, dass ich, im Gegensatz zu ihr, einen Beruf lernen konnte, der meinen Fähigkeiten entsprach und ich so „nie abhängig von einem Mann“ sein muss.
Was soll ich sagen? Mein Licht unter den Scheffel zu stellen und „nur“ an die Sekundarschule zu gehen, war ein Fehlentscheid, den ich damals so nicht bewusst wahrgenommen habe. Unser Sekundarschullehrer ahnte oder wusste wohl im Gegensatz zu mir um mein Potenzial und witterte Konkurrenz. Im Nachhinein sehe ich, wie oft er mich sabotierte und blossstellte und mich damit auch zu einer Zielscheibe des Gespötts machte.
Mein Glück war, dass ich durch die ersten zwölf Lebensjahre in einer glücklichen Familien- und Klassengemeinschaft viel Selbstvertrauen und ein gutes Selbstwertgefühl aufgebaut hatte, so dass mich das damals nicht wirklich erschüttert hatte. Ich ging nach wie vor nicht ungern in die Schule, freute mich über all die neuen Dinge, die ich lernen konnte, und vor allem Sprachen hatten mir es angetan. Dass da auch Fachlehrer mit ins Spiel kamen, erleichterten die Situation enorm.
Damals war es üblich, dass man vor dem Wechsel ins Lehrerseminar noch eine Art Eignungstest bei der Berufsberatung mache. Das wäre auch heute eine lohnenswerte Investition fände ich…
Nun, die Konsultation bestand unter anderem aus einem „Psychotest“, wie wir ihn damals nannten. Heute weiss ich, dass es ein gewöhnlicher IQ- Test war. Als ich eine Woche später zum Auswertungsgespräch kam, sagte mir die Berufsberaterin, dass da wohl etwas schief gegangen und die Auswertung daher unbrauchbar sei. Kurz: Ich machte noch einen Test- der dann wieder für irrelevant erklärt wurde. Und dann noch einen. Zu dessen Auswertung kam dann meine Mutter mit. Es stellte sich heraus, dass die Ergebnisse jedes Mal „zu hoch“ gewesen waren. Zu hoch, weil man diese Bereiche bei einem Arbeiterkind, wie ich es war, nicht erwartet und deshalb als „falsch“ taxiert hatte.
Erst aus Distanz, viele Jahre später, mit meinem Abschluss als Begabungsexpertin in der Tasche, realisierte ich diese Ungeheuerlichkeit. Genau deshalb habe ich heute wohl auch einen speziellen Fokus auf Kinder aus bildungsfernem Milieu. Dass Intelligenz durch alle Schichten, Kulturen, unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe gleichmässig verteilt ist, hat sich leider auch heute noch nicht überall herumgesprochen…
Der Übertritt ins Lehrerseminar war easy, ich freute mich auf Neues. Nach wie vor fand ich es spannend, Neues zu lernen. Wobei Lernen wahrscheinlich zu viel gesagt ist: Ich nahm am Unterricht teil, machte auch meistens meine Hausaufgaben. Das musste reichen und tat es auch füglich. Das Leben damals bestand aus hundert anderen Facetten und Inspirationen, 90 davon hatten im weitesten Sinn mit Lesen und Schreiben zu tun, daneben brachte ich mir autodidaktisch noch ein paar Instrumente bei. Arme Nachbarn. Zwischenzeitlich arbeitete ich in einer Sportredaktion und als Korrektorin einer Tageszeitung um mein Taschengeld aufzubessern.
Dass Latein aus mangelndem Schülerinteresse nicht zustande kam, machte mich unglücklich- dafür hatten wir einen Physiklehrer, der jeweils in seiner Mittagspause fünf schwere Computer anschleppte, um uns fünf Interessierten in die Geheimnisse der DOS-Programmiersprache einzuweihen. Das war spannend und ich hätte mir sogar vorstellen können, weiter in diese Welt einzutauchen. Wir programmierten, was das Zeugs hielt -bis die Schulleitung dem Treiben, wie sie es nannte, Einhalt gebot, weil dieses Zeugs nicht ins Leitbild der Lehrerausbildung gehörte. Aha.
So sehr mich ein Studium anschliessend gereizt hätte- ich wusste schlichtweg nicht was. Deutsch, Italienisch, Musik, Didaktik-Methodik…oder vielleicht doch Informatik? Dass ich eine typische Scannerpersönlichkeit bin, habe ich erst Jahre später erfahren. So ging ich den Weg des geringsten Widerstandes und begann zu unterrichten…
Der Beruf der Lehrerin hat mich immer fasziniert, weil so viele meiner Fähigkeiten zum Tragen kommen, zudem gibt es immer wieder Neues zu entdecken und zu lernen. Seit bald 35 Jahren bin ich nun in diesem Beruf, der mir tatsächlich auch Berufung ist. Ich habe zwar nie den Schulort gewechselt, aber innerhalb der Gemeinde von Kindergarten bis zur Abschlussklasse alles unterrichtet. Und seit 2004 widme ich mich ausschliesslich der Begabungs- und Begabtenförderung, was meiner Vorstellung von Lehren und Lernen am meisten entspricht. Selbststeuerung, Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung sind dabei nur ein paar Stichworte.
Butter bei die Fische…
Zurückkommend auf die Ausgangsfrage würde ich mal sagen, dass eine lebenslange Offenheit und Neugier für Neues ein grosser Vorteil, ja quasi Voraussetzungen für die Arbeit mit hochbegabten Kindern sind.
Selber hochbegabt muss man nicht sein, aber es erleichtert natürlich einiges… Vorbereitung, Aufarbeitung neuer Lerninhalte, vor allem aber auch das Sicheinfühlen. Letztlich muss das grosse Interesse an diesem Kind, das da bei dir sitzt, der Motor sein, für jegliche deiner Interventionen.
Vielleicht findest du jetzt, ich würde die Antwort auf die zweite Frage noch schulden… Wenn du bis hier hin gelesen hast, weisst du sie bestimmt.
Hochbegabt hin oder her- bei dir sitzt ein Kind, das ein Recht darauf hat, ernst- und wahrgenommen zu werden, auf dem Niveau, in dem Tempo, das ihm entspricht. Und wer am eigenen Leib erlebt hat, wie sterbenslangweilig Schulstunden sein können, hat diesbezüglich bestimmt einen Vorteil 😉
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