Angepasst strebsam unglücklich Dina Mazzotti

Buchrezension: Angepasst, strebsam unglücklich

Um es vorweg zu nehmen: Dr. Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften, war Dozentin während meiner Ausbildung zur Begabtenexpertin und ihre Forschungsarbeit hat mich immer schon fasziniert. Ihre Studien zu den Frühleser:innen und Frührechner:innen haben mich als Grünschnabel in der Hochbegabtenforschung damals sehr beeindruckt. Selbstverständlich lese ich ihre Publikationen, so auch das im Sommer 2022 erschienene Buch „Angepasst, strebsam, unglücklich“.

Das Buch richtet sich an alle, die in einer Form mit Kindern und deren Begleitung zu tun haben.

Überleistung

Hast du diesen Begriff schon mal gehört? Der Ausdruck, der in den USA schon lange etabliert ist, sich aber bei uns noch nicht so recht durchgesetzt hat, heisst auch Overachievement. Er umschreibt Menschen, deren erklärtes Ziel es ist, ein Leistungsträger zu sein oder es zumindest zu werden. Obwohl bei uns nicht ganz so akzentuiert, eigentlich nicht mal im Wortschatz vorhanden, gibt es auch bei uns dieses sehr starke Leistungsprinzip, dass sich verselbstständigt hat. Konkret beschreibt der Begriff Menschen, die dauerhaft über ihr eigentliches Potential hinausgehen.
Das Buch deckt auf, welche Entwicklungskonsequenzen dieses ständige an seine Grenzen -Gehen für Kinder haben kann, und gibt umsetzbare Hinweise darauf, wie das vermieden werden kann. Zwar werden Überleister auch als gesellschaftliches Phänomen beschrieben, und man könnte meinen, es sei demzufolge auch eher eine Aufgabe der Gesellschaft, hier grundlegend etwas zu ändern, dennoch finden sich im Buch viele Hinweise für achtsame Eltern, die verhindern wollen, dass ihre Kinder in diese Fall tappen.

In unserer Überleister-Kultur verortet Margrit Stamm auch die Wurzel für die mangelnde Lernfreude und die zunehmenden emotionalen Probleme vieler Kinder.

Lesestoff für die Öffentlichkeit

Das leicht lesbare Buch von Dr. Stamm ‚Angepasst, strebsam, unglücklich – Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder‘ grenzt Begrifflichkeiten wie Hochleister und Überleister in gewohnt klarer Art voneinander ab. Margrit Stamm analysiert sehr treffend, wo dieses Phänomen herkommt, welchen Anteil die Eltern an dieser Misere haben und wie es den Kindern dabei ergeht.
Ich schätze bei ihren Büchern, die für die breite Öffentlichkeit bestimmt sind – also nicht spezifische Fachpublikationen – dass sie fachlich sehr fundiert sind, aber für Laien gut lesbar bleiben.

Ein Augenöffner

Eine Klientin, der ich mein Exemplar ausgeliehen habe, bezeichnete es als „Augenöffner“. Auf weniger als 200 Seiten erklärt das Buch die Fakten und gibt Anstösse, wie die eigenen Kinder entlastet werden können.
Das Buch ist in vier Abschnitte unterteilt: Es beginnt mit ‚Gesellschaft und Bildungssystem: Katalysatoren von Überleistung‘ , darin wird erklärt, wie das Bildungssystem und die Gesellschaft die Entstehung von Überleistern anpeitschen. Diese Ausführungen folgen ‚Typen von Überleistern und ihre Merkmale‘, insbesondere einer ausführlichen empirischen Studie sowie ‚Eltern als Maximierer‘. Diese drei Kapitel bilden die analytischen Grundlagen und werden vom vierten Teil ‚Das authentische Kind‘ mit vielen praktischen Anregungen abgeschlossen.

Was ich mir merke

Die Aufgabe eines Kindes ist es, Kind zu sein.

Freies Spiel ohne Erwachsenenkontrolle nimmt heutzutage nur noch ca. 5 % der Wochenaktivitäten von Primarschüler:innen ein. Dafür nehmen Fördermassnahmen rund einen Viertel ihrer Zeit in Anspruch … Dabei wissen wir um die Wichtigkeit des Spielens: Ein spielendes Kind lernt und trainiert Softskills wie Neugierde, Konzentration und Ausgeglichenheit ganz nebenbei.

Das gibt zu denken! 

Mehr als 60 % der Kinder haben schon im Primarschulalter eine Therapie hinter sich. Eines von zehn Kindern war schon in psychotherapeutischer Behandlung. Mehr als 10 % der Kinder leiden unter Schul- und Prüfungsangst. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie spricht von Burnout Kids und ihren Erschöpfungsdepressionen!

Abschlüsse verlieren durch Akademisierung und Bildungsexpansion an Wert. 

Ein System, in dem ein Abschluss den nächsten jagt, behandelt Abschlüsse inflationär. Wann ist eine «gute» Bildung «gut genug»? Wie gelingt es, die praktische Anwendung von Wissen ins Zentrum zu stellen? Braucht es ein Beweis-Papier um Expert:in in einem Thema sein?

Wir pressen nicht nur Zitronen aus.

Auch Kinder und Jugendlichen bis aufs letzte Tröpfchen ausgequetscht. Die Forderung nach Hochleistung ist omnipräsent. Wir sollten endlich eine Debatte über das Auspressen von Leistungspotenzialen unserer Kinder und auch der Erwachsenen führen.

Kinder sind gut genug, so wie sie sind. 

Die meisten Kinder entwickeln sich in ihrem Tempo in die richtige Richtung. Aber die individuelle Entwicklung ist kompliziert und naturgemäss performt ein Kind nicht immer und nicht in jeder Situation perfekt. Das ist auch voll in Ordnung so. Kinder – und überhaupt Menschen! – sind keine Maschinen!

Noten zählen immer noch mehr als der eigentliche Lernprozess. 

Immerhin findet auch an den öffentlichen Schulen ein zögerndes Umdenken statt. Lies gern auch 8 Gründe, weshalb ich Noten für sinnlos halte

Der Optimierungswahn muss vor den Kindern Halt machen. 

Wer optimiert, manipuliert. Sich selbst oder andere. Aber kindliche Optimierung fördert nicht, sie lähmt.

Im Gymnasium sitzen oft die „Falschen“. 

Nicht die «die intelligentesten 20 %» drücken die Schulbank an weiterführenden Ausbildungsstätten. Traurig aber wahr: Die soziale Herkunft ist für den Übertritt ins Gymnasium wichtiger als die Leistung.

(Selbst-)Wert hat nicht mit Leistung zu tun.

Meistens ist für solche schiefen Selbstkonzepte eine hohe Leistungsorientierung in der Familie und der Schule ausschlaggebend. 

Angemessene Ziele für die Kinder! 

Sind Eltern-Erwartungen zu hoch, kann das die Entwicklung der kindlichen Leistung und des Wohlbefindens beeinträchtigen.

Belohnungen zerstören die intrinsische Motivation.

Über die Krux von Belohnung und Strafe habe ich hier schon einmal ausführlich geschrieben.

Kinder haben das Recht auf den jetzigen Moment. 

Bildung und Erziehung müssen die Gegenwart, in der das Kind lebt, respektieren und nicht bloss die Zukunft im Blick haben. 


Ich kann dieses Buch allen Eltern ans Herz legen, die verstehen wollen, was Bildung unseren Kindern geben sollte und was eben nicht.

Ein Gedanke zu „Buchrezension: Angepasst, strebsam unglücklich

  1. Pingback: Mindfuck: Nur ab IQ 130 ist Hochleistung möglich -

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert