Buchrezension: Generation Angst

Das Buch von Jonathan Haidt ist umstritten, wohl zu Recht.
Zum ersten Mal davon gehört habe ich kurz nach seinem Erscheinen, Ende Juni 2024, als Lenrspezialistin Caroline de St. Ange enthusiastisch davon sprach. Die Neugier hatte mich gepackt und so bestellte ich das Buch kurzerhand. In meiner Lieblingsbuchhandlung war es noch nicht einmal vorrätig. Das hat sich nach dem grossen Sturm, den das Buch ausgelöst hat, verändert.

Ein Muss für Eltern und Pädagogen

Ich wollte das Buch „Generation Angst“ unbedingt lesen, denn es ist unübersehbar, wie sehr sogar schon junge Kinder ins Handy und besonders in Social Media abtauchen. Familien erzählen mir von der Hartnäckigkeit, mit der am Esstisch über die zu häufige Nutzung aller Arten von elektronischen Medien diskutiert wird. Ich erhoffte mir von diesem Buch nicht nur eine laute Warnung vor dem „Internet in der Hosentasche“, sondern auch Lösungsansätze und Umsetzungsvorschläge.

Evidenzbasierte Ausführungen

In seinen aufgeführten Statistiken zeigt Haidt einen fundamentalen Umbruch im Sozial- und Lernverhalten von Kindern und Jugendlichen seit der Einführung der Smartphones inkl. Social Media-Anwendungen auf. Diese Veränderungen stehen im krassen Gegensatz zu einfachen Handys, mit denen man nur anrufen bzw. SMS versenden kann.

Haidt schliesst daraus, dass es zu einer totalen Neuverdrahtung, also einer Veränderung des Gehirns und einer smartphonebasierten Kindheit bei der Generation Z kam. Generation Z sind jene Menschen, die zwischen den Jahren 1995 und 2010 geboren sind. Als Folge dieser Veränderungen stürzten die Kinder und Jugendlichen vermehrt in Depressionen und sie neigten häufiger zu Selbstverletzung und Suizid. Bei älteren Personen, die eine Kindheit ohne Smartphones erlebt haben, sei diese Veränderung nicht erkennbar. Er erörtert diverse Herausforderunge, der sich diese junge Generation stellen muss: soziale Deprivation, also einen Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem, Schlafmangel, kurze Aufmerksamkeitsspanne, Abhängigkeit und Suchtverhalten.

Vage Vorschläge

Haidt schlägt einige Veränderungen im gesellschaftlichen Miteinander vor, die sich besonders auf die US beziehen, aber bestimmt auch in Europa umsetzbar wären:

  • Kein Smartphone vor 14 Jahren (Beginn der High School)
  • Keine sozialen Medien vor einem Alter von sechzehn Jahren
  • Smartphonefreie Schulen
  • Viel mehr unüberwachtes Spiel und Unabhängigkeit in der Kindheit

Haidt fordert grössere gesellschaftliche und politische Anstrengungen, um die negativen Einflüsse der digitalen Welt zu mindern, bleibt aber oft unkonkret, wie genau diese Massnahmen aussehen sollten. Ich hätte mir hier deutlich mehr Klarheit und praktische Ansätze gewünscht.

Helikopter-Eltern

Spontan möchte man Haidts Forderungen sofort bedingungslos zustimmen. Dann beschleichen einen Zweifel, ob Eltern am gleichen Strick ziehen würden. Wenn ich mich in unserer Primarschule umschaue, haben unzählige Kinder entweder ein Smartphone oder eine Smart Watch dabei. Beides muss während des Unterrichts auf lautlos gestellt in der Schultasche bleiben.
Ich erinnere mich an eine Begebenheit, die bereits mehrere Jahre zurückliegt, als ich mit einem Erstklässler eine Einzelförderstunde beendete. Der Knirps drückte sofort auf seine Smart Watch. Als ich ihn fragte, was er da mache, antwortete er, dass er seiner Mama, die draussen vor dem Schulhaus wartete, mitgeteilt habe, dass er gerade herauskomme. Seine Eltern wollten immer wissen, wo er sei. Zur Verteidigung führen Eltern an, dass ihr Kind sie im Notfall immer kontaktieren könnte. In einer Krisensituation ruft aber die Schule die Eltern an und informiert sie.

Aufsichtspflicht

Nicht nur in Amerika, sondern auch in einigen europäischen Ländern scheint das Problem zu bestehen, dass frei spielende Kinder draussen in manchen Gegenden gleich als vernachlässigt angesehen werden. Soweit sind wir in der Schweiz zum Glück nicht. Und doch sind morgendlichen Staus vor der Schule, die ständige Begleitung zu allen Freizeitterminen etc. auch hier gang und gäbe.
Kinder gehen nur noch selten alleine zum nächsten Nachbarskind, wenn auf dem Weg eine grössere Strasse überquert werden muss. Erinnerst du dich an deine Kindheit, in der du mit einer Gruppe Gleichaltriger so lange umhergestreift bist, bis es dunkel wurde? Hattest du in der Gruppe eine erwachsene Person oder ein Telefon dabei? Hat dich jemand mit dem Auto zu Sport und Spiel gefahren und wieder abgeholt? Es wäre so wichtig, dass wir unseren Kindern diese Freiheit wieder zugestehen würden! Klar, die Strassen sind unsicher, besonders für Fahrradfahrer:innen. Aber vielleicht müsste man die Strassen einfach wieder sicherer für Fussgänger und Velofahrerinnen machen?

Kritik von Wissenschaftlern

Es gibt einige renommierte Wissenschaftler:innen, die die Arbeitsweise und Aussagen von Haidt scharf kritisieren. So moniert z.B. Psychologieprofessorin Candice L. Odgers in der Fachzeitschrift „Nature“, dass keine eindeutigen Belege für einen kausalen Zusammenhang zwischen Bildschirmnutzung und psychischer Gesundheit existieren*. Ebenso widersprechen Forschende der Universität Würzburg der Aussage von Haidt.**
U.a. führen diese kritischen Stimmen an, dass die vielen gleichzeitigen Probleme auf der Welt (Kriege, Klimakrise, Corona-Pandemie, politische Polarisierung etc.) zu den vermehrten Depressionen führen und nicht die Nutzung der Smartphones oder Social Media. Zudem würden nun endlich psychische Erkrankungen bewusster wahrgenommen. Auch würden viele Studien aufzeigen, dass Kinder und Jugendliche soziale Medien nutzen, um Freundschaften mit Gleichaltrigen zu pflegen. Gleichzeitig verbinden sich viele Personen über Social Media, um konkrete Probleme gemeinsam anzugehen. Was Haidt auch nicht untersucht hat, ist, was, wie viel, mit wem und wie lange ein Kind am elektronischen Gerät nutzt und was es sonst in seiner Freizeit tut.

*https://www.platformer.news/anxious-generation-jonathan-haidt-debate-critique/

**https://www.uni-wuerzburg.de/aktuelles/pressemitteilungen/single/news/generation-angst-thesenpapier/

Ich finde, dass die Probleme, die Social Media schafft, keinesfalls kleinzureden sind: Cybermobbing, Hass, Hetze – doch auch in der realen Welt haben wir damit zu kämpfen.

Was mir am Buch besonders gefallen hat:

Besonders beeindruckt hat mich, wie Haidt es schafft, komplexe wissenschaftliche Forschung so zugänglich zu machen. Die zahlreichen Studien, die er heranzieht, um seine Argumente zu untermauern, sind eindrucksvoll und alarmierend. Es ist spürbar, wie ernst die Lage ist, wenn er den Zusammenhang zwischen dem Anstieg von Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Problemen bei Jugendlichen und der Verbreitung von Smartphones und sozialen Medien darstellt.

Was mir weniger gefallen hat:

Trotz all dieser Stärken empfand ich das Buch an einigen Stellen als etwas einseitig. Haidt konzentriert sich sehr stark auf die negativen Aspekte der sozialen Medien und digitalen Technologien. Dabei kommen die positiven Seiten – wie die Möglichkeit zur Vernetzung, zum Wissensaustausch oder zur Mobilisierung für soziale Anliegen – meiner Meinung nach etwas zu kurz. Das Buch hat in mir das Gefühl geweckt, dass es manchmal ein wenig zu alarmistisch ist und nicht genügend Raum für eine ausgewogene Diskussion lässt.

Auch die vorgeschlagenen Lösungen erscheinen mir teils vage.

Mein Fazit:

Insgesamt hat mich „Generation Angst“ von Jonathan Haidt beeindruckt. Seine Analyse der gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklungen fand ich sehr erhellend. Haidt beschreibt überzeugend, wie die Mechanismen sozialer Medien Polarisierung und soziale Fragmentierung verstärken. Dies regt an, tiefer über die aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken nachzudenken und sich Fragen über den Einfluss von Technologie auf unser Miteinander zu stellen.
Unabhängig von populärwissenschaftlichen Ausführungen ist es ein wichtiges Buch, das dringend notwendige Diskussionen über die Auswirkungen der digitalen Technologie auf junge Menschen anstösst.
Es regt nicht nur zum Nachdenken an, sondern fordert auch heraus, eigene Ansichten zu hinterfragen. Trotz der genannten Kritikpunkte halte ich es für eine äusserst lohnende Lektüre, besonders für Eltern, Erzieher und alle, die sich mit den Herausforderungen unserer modernen digitalen Gesellschaft auseinandersetzen wollen.

Ein Gedanke zu „Buchrezension: Generation Angst

  1. Von: Claudia Völkening

    Herzlichen Dank für diese Einführung in das Buch. Ich schließe mich an, dass nicht nur Social Media zu vermehrten Problemen führt. Letztlich sind jedoch Krieg, Umweltzerstörung, Klimawandel… zusätzliche Belastungen, die instabile Personen weiter belasten und vorhandene Probleme verstärken können.

    Ich bin mir unsicher, ob es überhaupt einen einzelnen ausschlaggebenden Grund für die aktuellen Probleme der jungen Generation gibt. Zu Beginn des Buches, weiter bin ich noch nicht, sind die Veränderungen in der Gesellschaft beschrieben. Sie können gemeinsam die Ursache für die Veränderung sein.

    Den Medienkonsum halte ich, eine ganz unwissenschaftliche Meinung, für einen ausschlaggebenden Punkt für negative Veränderungen. Gerade dort, wo er das Leben dominiert und eigene Aktivitäten im realen Leben zurück drängt.

    In diagnostischen Verfahren sehe ich eindeutig die rapiden Veränderungen. Eigene Bedürfnisse sind in Schieflage, Selbstbewusstsein weniger ausgeprägt und der Beginn von Tätigkeiten fällt schwer bzw. ist unmöglich. Diese Veränderung beobachten auch Kolleginnen. Beängstigend.

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