Es ist wirklich ein bisschen wie Magie… Wenn wir mit Schüler*innen den „Deal“ des Compctings abschliessen, lösen sich viele Probleme fast wie in Luft auf. Wobei: Eigentlich gehen wir den Deal nicht mit den Lernenden ein- wir gehen ihn mit uns selber, mit unserer Lehrer*innenpersönlichkeit ein. Was jetzt da vielleicht ein bisschen hochtrabend klingt, ist in Wirklichkeit ganz einfach: Als Lehrpersonen sind wir es uns gewohnt, für das Unterrichtsgeschehen und das Lernen unserer Klasse Verantwortung zu tragen. Das ist grundsätzlich ja auch völlig in Ordnung so. (Man hört das Aber jetzt förmlich kommen, oder?) ABER es gibt Kinder, deren Auffassungsgabe, deren Denk- und Persönlichkeitsstruktur von der Zeitplanung abweicht- entweder, weil sie mehr oder eben weniger Zeit brauchen, um sich einen Lerninhalt anzueignen. Einige von ihnen kennen ihn vielleicht auch schon. Besonders auffallend ist das bei Zyklus 1- Kindern, vor allem bei den Erstklässlern, die mit grossen Erwartungen an die Schule ins Schulhaus eintreten und es bald schon einmal mit hängenden Schultern verlassen. Es kann- und ich finde, es darf- nicht sein, dass Kindern, die alle Buchstaben kennen und die Schreibabläufe beherrschen, sich ein Jahr lang mit dem Erlernen des Alphabets herumschlagen müssen. Es ist nicht in Ordnung, dass ein Kind, das in seiner Freizeit „das magische Baumhaus“ oder „die drei ???“ liest, sich mit „Timi und Tina im Garten“ beschäftigen muss. Genau so wenig ist es in Ordung, dass ein Kind, das den Zehnerübergang aus dem Effeff beherrscht, stundenlang «verliebte Zahlen» (das sind solche, die zusammen 10 ergeben, wie z.B. 3+7) oder bloss, weil der Lehrplan dies nicht vorsieht, mit seinen Rechnungen die 20 nicht überschreiten darf. Ja, das gibt es leider auch heute noch, wie ich in meiner Beratung immer wieder erfahre.
Die Bildungsforscherin Prof. Dr. Margrit Stamm verweist in ihrer Studie »Frühlesen und Frührechnen als soziale Tatsachen«, die sie und ihr Team von 1995 bis 2008 durchgeführt hatten, darauf hin, dass ca. 3 % aller Erstklässler den Lernstoff des Schuljahres bei Schuleintritt beherrschen. Ungefähr gleich viele sind im Rechnen oder im Bereich Sprache ebenso weit voraus. Allerding muss dies kein Zeichen von Hochbegabung sein- schon gar nicht, wenn dieses Wissen von übereifrigen, gutmeinenden Eltern oder Grosseltern antrainiert worden ist. Die Tatsache bleibt natürlich trotzdem bestehen- diesen Kindern ist es langweilig. Was tun?
Zeit ist Geld: Eine Bank-Metapher
Zeit ist wie Geld: Es kann weise eingesetzt werden oder verschleudert. Es scheint wertvoll, aber der Wert liegt darin, was damit getan wird. Dr. Joseph Renzulli, ein bekannter Erziehungspsychologe aus Conneticut, schlägt vor, dass wird den SuS erlauben sollten, Zeit, die wir für sie mit Arbeit verplant haben, zurückzukaufen und sie auf andere Art und Weise zu verwenden.
Man kann die Metapher weiterziehen und für die SuS „Check-Konten“ und „Spar-Konten“ errichten. Auf dem Check-Konto liegt die Zeit, die für den Erwerb von Basis-Fähigkeiten vorgesehen ist genauso wie die Zeit für Gruppen -Instruktionen und -Aktivitäten. Diese Zeit wird individuell sehr unterschiedlich beansprucht. Das Sparkonto ist jenes, welches die gesparte Zeit eines Kindes anzeigt, in dem es sein Wissen schon vor Ablauf der vorgesehen Übungszeit belegt.
Als Lehrperson stellen sich uns nun folgende Fragen:
- Wie weiss ich, wer wie viel gesparte Zeit hat?
- Wie setzten die SuS ihre Zeit ein?
- Wie organisiere ich den Lehrplan, so dass aus dem Spar-Konto für die Lernenden der grösstmögliche Gewinn resultiert?
Überblick über die Ersparnisse
Dazu gibt es verschieden Wege. Auch wenn wir gerade bei jungen Kindern nicht immer den Zugang zu vorhergegangenen Arbeitsschritten haben, können uns Gespräche („Interviews“), Portfolio und dynamische Zugänge oft Aufschluss über Vorwissen und Interessenlage geben.
Was wird mit den Ersparnissen gemacht?
Eine gute genaue Beobachtung, vgl. meinen Blogartikel über das Dokumentieren, ist wichtig um herauszufinden, was das Kind mit seiner Zeit idealerweise anstellen könnte. Aufschluss darüber können Beobachtungen und Rückmeldungen über sein Freizeitverhalten, seine bevorzugten Lernplätze, auch dazu gibts einen Blogartikel, sowie seine Gruppenaktivitäten sein.
Wenn Kinder schon lesen und schreiben können, könnte man sie auffordern, den „Was ich gern mache“ –Fragebogen auszufüllen. Diesen Fragebogen stelle ich Interessierten auf Anfrage auch gern zu Verfügung. Dies erlaubt einen anderen Blick auf Lernstile und bevorzugte Arbeitsweisen. Das Kind soll dabei alle Zugänge lesen und jene, die es liebt, einkreisen. Auf der zweiten Seite soll es beschreiben oder zeichnen, was es besonders gut kann. Wer noch nicht lesen oder schreiben kann, bekommt von der Lehrperson oder Heilpädagogin Unterstützung beim Ausfüllen.
Auch Verhaltensauffälligkeiten können Aufschluss über Stärken geben!
Nicht immer sind diese „Störungen“ Anzeichen für irgendwelche Defizite. Ich finde, hier wäre ein Perspektivenwechsel dringend angezeigt!
- Wenn ein Kind dreinschwatzt, kann diese ein Hinweise auf sprachliche Intelligenz sein.
- Ist es ein Tagträumer (räumliche-visuelle oder intrapersonelle Intelligenz)? Ist es anfällig darauf, Gruppen aufzumischen (interpersonale Intelligenz)?
- Gehört es zu den „Warum“-Fragenden (logisch-mathematische Intelligenz)?
- Sammelt und sortiert es alle möglichen Dinge (naturalistische Intelligenz)?
- Zappelt es herum und hat Mühe mit Stillsitzen (Körperlich-kinästhetische Intelligenz)?
Eltern sind Experten für ihre Kinder!
Sie haben reiche Erfahrungen mit ihrem Kind, die hilfreich sein können. Durch den Austausch mit den Eltern, sei es Brief, Telefon oder Schulaktivitäten, stehen die Chancen am besten, eine gewinnbringende Zusammenarbeit und einen fortwährenden Dialog zu erschaffen.
Aber der Lehrplan…
Lehrperson sein ist eine anspruchsvolle Aufgabe, heute mehr denn je. Mit meiner Berufserfahrung von weit mehr als 30 Jahren darf ich mir anmassen, dies zu beurteilen.
Abgesehen davon, dass es wichtig,ja unumgänglich ist, einen guten Draht zum Kind zu haben, muss man sich einen vollständigen Überblick über die Inhalte und Ziele des Lehrplans verschaffen. Was müssen die Schüler*innen überhaupt lernen, welche Kompetenzen müssen sie erarbeitet haben und welche Fähigkeiten müssen sie bei der Übergabe an die nächste Lehrperson nachweisen können? Je nach Lehrmittel kann dies nämlich sehr unterschiedlich sein und ziemlich stark vom Lehrplan abweichen.
Mit diesen Informationen und dem Fokus auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler*innen kann man beginnen, den Basis-Lehrplan zu straffen und erweitertes Lernen anzubieten.
Curriculum Compacting, also die Straffung des Basislehrplans lässt Individualisieren zu und ermöglicht begabten Kindern herausfordernde Lernangebote. Compacting bedeutet, die grundlegenden Inhalte in einen engeren Zeitrahmen zu setzen und somit Zeit auf das Sparkonto der Schüler*Innen zu überweisen. Die Idee ist, das Wichtige eines Stoffgebietes zu komprimieren, sich zu versichern, dass es tatsächlich verstanden wurde, ohne dass zeitintensives Üben und Repetieren von bereits Bekanntem nötig sind. Dazu stelle ich einen indiviuellen „Entrümplungsplan“ zusammen.
Bei älteren Kindern empfiehlt es sich, bei der Einführung eines neuen Lerninhalts vorab einen sogenannten „Vortest“ durchzuführen. Dieser Vortest beinhaltet wie ein Abschlusstest die Inhalte des neu zu erwerbenden Stoffs. Es ist unsinnig, Kindern, die den Test fehlerlos oder mit wenigen Fehlern ausgefüllt haben, die ganze Unterrichtseinheit aufdrücken zu wollen. Das ist einfach verschwendetet Zeit- und die Kinder wissen dies! Gegebenenfalls müssen kleine Lücken geschlossen werden- dies geht aber schnell und unkompliziert mit zielgerichteter Erklärung.
Auch junge Kinder realisieren bewusst oder unbewusst, dass ihr Vermögen, ihre Lebenszeit in der Schule verschwendet wird, wenn sie nicht sinnstiftend lernen und produktiv sein können. Wohin das führen kann, wissen wir leider alle nur zu gut. Wir Lehrpersonen müssen lernen, aus der Kont-Rolle zu fallen! Wir dürfen den Kindern ein Stück Verantwortung für ihr eigenes Lernen zurückgeben. Das menschliche Hirn ist auf Lernen programmiert, wir sind darauf angelegt, Informationen aus unserer Umwelt zu verwerten.
Bei jüngeren Kindern ist wichtig, auf Anzeichen zu achten, um herauszufinden, was sie bereits gut können. Dies können Arbeitsblätter sein, Arbeiten an Lernplätzen oder Gruppenarbeiten, die auf die Entwicklung ganz bestimmter Fähigkeiten abzielen. Wenn ein Kind etwas schon beherrscht, sollte es auf keinen Fall stur üben müssen, nur weil einige andere dies noch nötig haben. Gespräche, Beobachten oder Testen geben uns darüber Aufschluss. Dann kann es Zeit sein, zu anderen Aktivitäten überzugehen und Erweiterungs-Angebote vorzusehen. Erweiterungen sind als „anstatt-von“-Arbeiten gedacht, nicht als „mehr-von“.
Wer nicht gleich mit Compacting anfangen will, dem sei das von Susan Winebrenner propagierte System „das Schwierigste zuerst“ empfohlen:
- Bevor der Klasse eine Aufgabe für die stille Beschäftigung gegeben wird, werden die fünf schwierigsten Aufgaben herausgesucht. Oft befinden sich diese am Ende der Einheit
- Alle zu lösenden Aufgaben werden an die Tafel geschrieben und die fünfschwierigsten davon markiert.
- Schülerinnen und Schüler, die nicht so viel üben müssen oder diesen Stoff bereits beherrschen, können mit den markierten Aufgaben beginnen.
- Wer vier von den fünf Aufgaben ordentlich, lesbar und richtig gelöst hat, muss die restlichen Aufgaben nicht mehr lösen.
Beim ersten Mal korrigiert die Lehrperson die Aufgaben. Das erste Kind, das vier
Aufgaben richtig gelöst hat, wird zum Korrekturkind. Es korrigiert die Aufgaben der Mitschülerinnen und –schüler und sammelt deren Arbeiten für die Lehrperson ein.
Schülerinnen und Schüler, die vier der fünf Aufgaben richtig gelöst haben, können über die restliche Zeit frei verfügen.
Dadurch entsteht für die Lehrperson kein Mehraufwand.
Wichtig:
Um das Beste auf dieser Methode herauszuholen, müssen die folgenden Punkte
berücksichtigt werden.
- Die stille Beschäftigung wird auf 20 Min. oder weniger beschränkt
- Die Schüler*Innen korrigieren nicht ihre eigenen Arbeiten.
- Die Schüler*Innen, die sich für die markierten Aufgaben entscheiden,
- verbessern die Fehler, die das Korrekturkind gefunden hat, nicht sogleich.
- Kein Kind sollte mehr als einmal pro Woche Korrekturkind sein.
Diese Strategie eignet sich übrigens auch besonders für Schülerinnen und Schüler, welche Pullout-Programme besuchen. Sie können so zeigen, dass sie den Stoff beherrschen, ohne alles Verpasste nacharbeiten zu müssen.
Ich selber habe mit „das Schwierigste zuerst“ schon wunderbare Erlebnisse gehabt und tolle Erfolge im Arbeitsverhalten von minderleistenden Schüler*Innen verzeichnen können.
In meinen Arbeitsjahren als Klassenlehrerin, die mittlerweile auch schon viele Jahre zurückliegen, habe ich – ohne es zu wissen- oft Curriculum Compactings durchgeführt. Einfach, weil es mir schon damals sinnlos schien, Kinder mit etwas zu beschäftigen, was sie eh schon gut können. Vielleicht kommt jetzt das Argument, dass es aber Lernende gibt, die gern zum 10. Mal ein Arbeitsblatt übers Bruchrechnen ausfüllen, die auch gern das Erfolgserlebnis haben, zum 10. Mal als erster mit dem ausgefüllten Blatt bei der Lehrperson zu stehen. Diese Kinder gibt es tatsächlich und sie haben auch vielfältige Gründe dafür. Hier aber bestünde meiner Meinung nach die Aufgabe der Lehrperson, der Heilpädagogin oder evt. vorhandenen Fachperson für Begabtenförderung darin, diesen auf die Spur zu kommen und das Kind sanft zu Selbststeuerung und einem gewissen Risk-Taking hinzuführen.
Freie Zeit – was nun?
Die besten Erfahrungen habe ich damit gemacht, dass sich Kinder allein oder in einer kleinen Gruppe einem Forschungsthema widmen. Wie das gehen könnte, werde ich in einem weiteren Blogartikel erzählen. Oder aber man nutzt die Zeit für ein Mentorat, wie ich es auf dieser Website auch schon beschrieben habe.
Besonders toll ist es natürlich, wenn sich ein ganzes Team auf den Weg des Curriculum Compactins auf den Weg machen will – weil ich hierzu gerne Hand biete, gibts bei mir auch Weiterbildungen dazu.
Ich freue mich, wenn dieser Artikel inspirierend war und viele Kinder ihr Zeitguthaben sinnstiftend nutzen können!