Wenn im Zusammenhang mit jungen Kindern von hohen Begabungen gesprochen wird, kommt es oft zu merkwürdigen Reaktionen im nahen und weitern Umfeld.
Warum aber eine frühe Identifikation wichtig sein kann, soll Inhalt dieses Artikels sein.
Frühe Identifikation ist wichtig
Manchmal haben die Eltern anderer Klassenkameraden Angst, ihr Kind werde zu wenig wahrgenommen, weil ein begabtes Kind zu viel Aufmerksamkeit der Lehrperson bekommen könnte. In einem Klassenzimmer, auch in der Familie, hat jede Person Qualitäten, die andere auch besitzen und solche, die speziell und einmalig sind. Ein Kind mit hohen Begabungen ist nicht „besser“ als andere, es unterschiedet sich jedoch von ihnen.
Lehrpersonen, die sich um frühestmögliche Identifikation solcher Kinder bemühen, leisten oft Pionierarbeit. Lange Zeit wurden solche Kinder erst in der dritten, vierten Klasse entdeckt. Für manche Kinder kann dies zu spät sein.
Bedingt durch die Plastizität des Hirns ist es wichtig, dass Kinder jeden Alters, also auch noch sehr junge, ihnen entsprechende Inputs und Herausforderungen bekommen. Ein Viertklasskind, das immer vertröstet wurde, dass es jetzt dann schon spannender werden würde, gibt eines Tages die Hoffnung darauf auf. Wer keinen Sinn im Unterricht finden kann, wird eines Tages u. U. zum Minderleistenden, bleibt unter seinen Möglichkeiten, kann überheblich werden. Manche Kinder werden gelangweilt, wobei Langweile eine tiefere Stufe von Wut ist. Andere werden depressiv, wenn die Wut sich nach innen wendet. Oder die Wut wird zur Ursache von Verhaltensproblemen. Es wichtig, den Eifer und die Freude am Lernen von Neuem wach zu halten, bevor sie diesen Kindern abhanden kommen.
Wonach halten wir Ausschau?
Zu bestimmen, was eigentlich eine „hohe Begabung“ ist, bleibt eine Herausforderung. Im Allgemeinen sucht man nach einer Art oder einem Grad ausserordentlicher Fähigkeit.
Zeitgenössische Fachleute wie Robert Sternberg definieren Intelligenz über die Art, wie sie im Alltag angewendet werden kann – durch intelligentes Verhalten. Als Indikatoren für hohe Begabung nennt Sternberg das Vorhandensein von hoher Intelligenz einerseits und Problemlösungskompetenz andererseits, was zusammen eine möglichst optimale Umsetzung im Alltag ergibt.
Howard Gardner unterteilt Intelligenz in verschiedene Bereiche. Obwohl jeder von uns diese Fähigkeiten in sich trägt, sind sie jeweils in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden. Gardner teilt die Intelligenzen wie folgt ein:
- Sprachliche Intelligenz
- Musikalische Intelligenz
- Logisch-mathematische Intelligenz
- Räumlich-visuelle Intelligenz
- Körperlich-kinästhetische Intelligenz
- Interpersonale Intelligenz
- Intrapersonale Intelligenz
- Naturalistische Intelligenz
- Existenzielle Intelligenz (welche aber nicht offizell anerkannt ist.)
Gardners Unterteilung der Intelligenzen (heute reden wir lieber von „Domänen“) erlaubt uns, die Kinder vor einem erweiterten Hintergrund zu beobachten und vermehrt den Fokus auf aussergewöhnliche Interessen und Fähigkeiten zu setzen. Es kann sehr lohnenswert und spannend sein, das Augenmerk auf spezielle Kinder und ihre Familien zu setzen. Indem wir unsere Schulzimmer zu Räumen machen, in welchen Verständnis und Akzeptanz für besondere Fähigkeiten und Interessen herrschen, erlauben wir allen Kindern zu ihren Stärken zu stehen und ihre Talente preiszugeben.
Asynchrone Entwicklung
Die Entwicklung von Kindern mit hohen Begabungen verläuft oft nicht so, wie wir dies für ihr Alter erwarten. Es gilt dabei folgendes zu bedenken:
„Bei hohen Begabungen geht oft mit einer asynchronen Entwicklung einher, bei der fortgeschrittene kognitive Fähigkeiten und eine erhöhte Sensibilität innere Erfahrungen und Aufmerksamkeit kreieren, welche weit über der Norm liegen. Je höher die intellektuellen Fähigkeiten desto grösser wird der Unterschied zu dem, was wir als „normal“ bezeichnen. Diese Einmaligkeit, dieses Anderssein macht diese Kinder teilweise auch so verletzlich. Für eine optimale Entwicklung sind Anpassungen im Elternsein, im Unterrichten und Beraten unumgänglich.“ [1]
Es ist wichtig, sich diese Aussage immer wieder ins Bewusstsein zu holen. Auch wenn Kinder das gleiche biologische Alter haben, kann das geistige Alter massiv auseinanderdriften.
[1] Linda Kreger Silverman, „the gifted individual“ in „Counseling the gifted and talented, Love Publishing Co, 1993, p.3
Rätselhaftes Verhalten
Kinder mit hohen Begabungen können rätselhafte, schillernde Persönlichkeiten sein. Sie haben wohl mehr Unterschiedlichkeiten als Gemeinsamkeiten. Jedes beschreibende Verhalten für ein Kind könnte bei einem anderen Kind gerade gegenteilig ausfallen. Hohe Begabung zu definieren ist, als wolle man eine Sinfonie in Worte fassen, so ein grosses Spektrum an Qualitäten ist oft vorhanden. Kinder mit demselben IQ haben unterschiedliche Interessen, Persönlichkeiten, Fähigkeiten und Temperamente. Ihr Hirn treibt sie dazu, alles was sie tun, intensiv zu erleben. Und eben diese Erlebnis-Intensität gibt ihnen die Energie, ihre Fähigkeiten und Interessen weiter zu vertiefen und auszuweiten.
Gewisse Aspekte hoher Begabung können für traditionell unterrichtende Lehrpersonen grosse Herausforderungen sein. Erstaunliche Leistungen können mit klaffenden Lücken in körperlicher, sozialer und emotionaler Entwicklung verbunden sein. Bestimmt ist es auch nicht immer angenehm, sich mit den Bedürfnissen eines Kindes mit hohen Begabungen auseinanderzusetzen. Um diese Herausforderung zu meistern, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es das Ziel des Unterrichts sein muss, das Wachsen und Lernen aller Kinder zu fördern.
Leidenschaft für alles Mögliche
Es kann schwierig sein, den wechselnden Interessen begabter Kinder gerecht zu werden. Sind es anfänglich Dinosaurier, dann kreatives Kochen, später Töpfern, gefolgt von einer Reihe faszinierender Experimente, landet das Kind schliesslich bei der Astronomie. Passend dazu das T-Shirt, welches ein Mädchen letzthin getragen hat: „Ein neuer Tag, ein neues Hobby“.
Problemverhalten
Kinder mit hohen Begabungen können problematisches Verhalten zeigen, welches paradoxerweise auf ihre verkannten Fähigkeiten hinweisen kann. Auch Eltern tendieren dazu, den Fokus auf mangelnde Reife, Sozialisation und Disziplin zu setzen, anstatt die hohen Fähigkeiten ihrer Kinder zu estimieren. Immer wieder werden Kinder mit hohen Begabungen fälschlicherweise als verhaltensauffällig eingestuft. Als Eltern und Lehrpersonen kennen wir folgende Verhaltensweisen:
- Eigensinnigkeit
- Angeberei
- Minderleistung
- Asoziales Verhalten
- Unverschämtheiten
- Zerstörungswut
- Verweigerung von Anweisungen
- Sturheit
- Emotionale Unreife
- Ungenügendes Arbeitsverhalten
- Mangelndes Urteilsvermögen
Menschen, die beruflich mit jungen Kindern zu tun haben und dabei im Hinterkopf behalten, dass auffälliges, „besonderes“ Verhalten auch mit einer Hochbegabung in Zusammenhang stehen könnte, leisten Pionierarbeit. Noch immer sind wir in unseren Breitengraden eher defizit-orientiert, sehen eher Probleme als Chancen. Es ist wichtig, den Bedürfnissen, der Neugierde auch der jungen Kinder Rechnung zu tragen und das Umfeld inspirierend zu gestalten. Wir Berufsleute sollten uns auf die Fahne schreiben, den jungen Kindern eine flexible, wohlwollende und verständnisvolle Lernumgebung vorzubereiten. Allerdings sollten wir dabei nicht vergessen, dass sich begabte Kinder oft mehr von einander unterscheiden als dass sie sich ähneln. Sie sind sich bloss in einem gleich: Es sind alles Kinder. Kinder, die in ihrer Einzigartigkeit akzeptiert, angenommen und geliebt werden wollen.