Kleinkinder am Boden

Hochbegabte Kinder in der KiTa

Gerade gestern hat mich eine sehr verzweifelte Mutter angerufen: Ihr dreijähriges Mädchen bringt die Erzieherinnen an den Rand der Verzweiflung. Nichts, was man ihr anbietet, ist genehm. Sie schmeisst mit den Holzpuzzles um sich, zerstört Dinge und vor zwei Tagen hat sie sich selbst so fest in den Arm gebissen, dass es blutete. Die Mutter ist auf die KiTa-Betreuung angewiesen. Das Mädchen längerfristig daheim zu behalten, ist also keine Alternative.
Wir führten ein längeres Zoom-Gespräch, in welchem sich herausstellte, dass das kleine Mädchen, nennen wir sie Mia, zwar die ersten paar Wochen recht gern in die Kita gegangen ist, dann aber zunehmend widerwillig dahin ging. Sie verstand zwar, dass die Mamma arbeiten gehen musste, aber das änderte für Mia nichts an ihrer persönlichen Situation. Zwar liess sie sich ohne grosse Szenen „abliefern“, so nannte es die Mutter, aber keine Viertelstunde danach begann der Horror.
Die Mutter erzählte weiter, dass Mia sehr interessiert an allem Möglichen sei. Dass sie sich für Zahlen und einfache Rechnungen begeistert und sich stundenlang mit dem Klötzchenmosaik und anspruchsvollen Puzzles beschäftigen kann. Im Gegenzug reagiert sie immer noch panisch, wenn sie das Geräusch des Haartrockners unerwarteterweise hört und hat von klein an alle Etiketten aus den Kleidern gezupft, bis die Mutter realisiert hat, dass diese sie wohl stören.
Soweit die Zusammenfassung der IST-Situation. Die Mutter wollte nun von mir wissen, wie die explosive Mia-Bombe in der KiTa entschärft werden könnte.

Natürlich kann es verschiedene Gründe geben, wieso Kinder nicht in die KiTa wollen. Aus vielen Elterngesprächen und langjähriger Erfahrung haben sich die drei zentralsten herauskristallisiert:

Unterforderung

So wie die Mutter Mia beschrieben hat, liegt der Verdacht auf Unterforderung nahe. Viele KiTas sind auf diese Möglichkeit einfach immer noch nicht sensibilisiert. Gerade erfahrene Betreuungspersonen haben manchmal ganz genaue Vorstellungen davon, wie ein Dreijähriges zu sein hat und was es können sollte. Und dann gibt es natürlich auch jene Bezugspersonen, die gerade aufgrund ihrer Erfahrung sensibilisiert sind und auf besondere Bedürfnisse reagieren können.

Als Porsche in der 30er-Zone unterwegs zu sein, ist frustrierend. Seine Fähigkeiten nicht ausleben können, macht genauso unzufrieden. Mias Mutter hat mir nicht genau sagen können, wie stark die Erzieherinnen auf Schwächen fokussiert sind. Aber oft höre ich, dass in der KiTa vor allem festgehalten wird, was die Kinder nicht können. Und mit diesem Blickwinkel wird leider verpasst, welche Kompetenzen die Kleinen bereits haben.

KiTa-Kinder testen?

In aller Regel brauchen so junge Kinder nicht mit einer Intelligenztestung untersucht zu werden. Ich selber führe diese nicht vor 6 Jahren durch, weil die Resultate nicht wirklich valide sind. Meine feste Überzeugung ist es, dass gerade junge Kinder durch sorgfältiges Begleiten in ihren Interessen durchaus genügend gefördert werden können. Wenn Erzieher:innen und Eltern ihre Beobachtungen auch noch dokumentieren, haben sie ein mindestens so aussagekräftiges Instrument in der Hand, wie das Profilbild eines Testes es ist. Okay, keine Zahl – aber die braucht es bei einem jungen Kind effektiv (noch) nicht.

Wie kann Unterforderung in der KiTa vermieden werden?

Zuerst muss die Unterforderung eines Kindes überhaupt erkannt werden! Die KiTas, die ich kenne, nehmen ihre Aufgabe, die Kinder zu begleiten sehr ernst und besitzen sehr ausgeklügelte Beobachtungsinstrumente. Allerdings sind die meisten dieser Instrumentarien eher defizitorientiert. Es wäre allerdings ein Leichtes, hier den Schwerpunkt auf vorhandene Stärken zu legen. Dieses Umdenken muss allerdings von der Leitung, respektive den Erziehenden initiiert werden. Von einem Tag auf den anderen klappt das selten.

Dann aber kann das Programm der KiTa aber erweitert, man spricht von Enrichment, werden. In den Schulen ist dies durchaus bekannt – und wird trotzdem immer noch zu wenig umgesetzt. Es gibt auch bei jungen Kindern einige Möglichkeiten:

  • Spielen wird oft nicht explizit erwähnt, weil ja in der KiTa schon gespielt wird. Natürlich. Aber was denn? Die Altersangaben auf den Schachteln mögen für viele Kinder stimmen, für einige aber nicht. Also ruhig mal herausfordernde Einzel- oder Gruppenspiele einführen oder die Kinder aus bestehendem Spielmaterial neue Spiele erfinden lassen.
  • Projekte, die Kinder zum Beobachten oder einfachen Dokumentieren bringen, initiieren.
  • Themenwochen so gestalten, dass eine Differenzierung nach oben möglich ist. Vielleicht mögen einige Kinder gern beim Kochen oder Backen helfen. Andere zählen, wiegen, messen gern und wiederum andere lesen schon kleine Texte.

Grundsätzlich sollte eine KiTa so gestaltet sein, dass sie dem Explorationsbedürfnis der Kinder Rechnung tragen und viel Raum für Erfahrung und Experimente bleibt.

Reizüberflutung

Es ist wunderbar, wie einladend, freundlich und farbig viele KiTas eingerichtet sind! Wenn wir aber dran denken, dass viele hochbegabte Kinder noch ein unsichtbares Zwillingsgeschwister mitbringen, wird es anspruchsvoll. Für alle. „Zwillingsgeschwister?“, fragst du dich vielleicht jetzt. Ja, es heisst Hochsensitivität. Viele hochbegabte Kinder haben gleichzeitig noch eine erhöhte Sensitivität – und die macht unter Umständen einen „kindgerecht“ eingerichteten Raum zur Herausforderung.
Denke ich an meine KiTa-Besuche (manchmal darf ich dort Mäuschen spielen und ein Kind beobachten), nehme ich in meiner Vorstellung sofort ein Potpourri von Gerüchen, Farben und Geräuschen wahr. Irgendwo werden Orangen geschält, ein Kind weint herzzerreissend und die Fasnachtsdeko leuchtet grell-bunt. Bei sensitiven Kindern kann dies zu einem totalen mentalen Overkill führen, der den Aufenthalt in der KiTa zum Horrortrip werden lässt. Kinder wie Mia geraten in Not, rasten aus und beissen, um sich selbst überhaupt noch spüren zu können, auch mal in den eigenen Arm. Wir Erwachsenen haben mehr oder weniger gut gelernt, mit solch einer Reizüberflutung umzugehen, aber (hoch-) sensitive Kinder können mit ihrem sensiblen Nervenkostüm über die Grenze der Belastbarkeit geraten.

Misfit – fehlende Passung

Von Remo Largo, dem verstorbenen Zürcher Kinderarzt und Autor von Baby-, Kinder- und Schüler-Jahren, habe ich den Begriff „Misfit“ in meinem Vokabular übernommen.

Je nachdem, wie die KiTa geführt wird, kann auch hier die Passung fehlen. Darum rate ich ganz dringend zu einer ausgedehnten Schnupperphase, bevor hier ein Entscheid gefällt wird.

Vielleicht ist ein Kind in der KiTa in eine Gruppe eingeteilt, die ihm nicht liegt. Vielleicht möchte es selber wählen können, mit wem es wo spielt. Oder es bräuchte generell mehr Wahlmöglichkeiten, womit es sich beschäftigen kann?
Wenn dein Kind in einer KiTa gelandet ist, die eher offen angelegt ist und es aber von seinen Grundstrukturen eher ein stabiles Beziehungsgefüge, fixe Gruppen und einen beständigen Gruppenraum bräuchte, kann dies natürlich ebenfalls ein Grund für Schwierigkeiten sein.

Mittlerweile habe ich einige KiTas gesehen, bei denen die Fachfrauen viel über Hochbegabung und die Gefahren von Unterforderung wissen. Da wird ganz generell auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern eingegangen, Begabungen und Interessen werden in den KiTa-Alltag eingebunden und Herausforderungen achtsam begleitet. Es gibt sie also, jene KiTas, die ein Augenmerk auf hochbegabte (und auch hochsensitive) Kinder haben! Meist sind diese Förderschwerpunkte aber von einer oder zwei Betreuungspersonen abhängig – gibt es einen Personalwechsel, kann es sein, dass das Augenmerk auf die besonderen Bedürfnisse hochbegabter Kinder verloren geht. Leider kenne ich in der Schweiz nur eine KiTa, die die Förderung auch von hochbegabten Kindern explizit im Konzept hat. Es ist die kits-dayschool.ch – Ergänzungen nehme ich gern entgegen! In Deutschland scheint es einige Kindertagsstätten zu geben, die ihren Fokus offiziell auf Hochbegabung legen.

Anpassungsleistungen sind anstrengend

Tatsache ist, dass sich viele Erzieher:innen schwer damit tun, auf die Bedürfnisse hochbegabter, unterforderter Kinder in der KiTa einzugehen. Die Anpassungsleistungen, welche die kleinen Knirpse den ganzen Tag leisten müssen, sind enorm! Wie frustrierend es ist, wenn man seine Fähigkeiten nicht leben kann, wissen wir Erwachsenen. Versetze dich doch bitte mal in Mia, die schon komplizierte Puzzles lösen kann, aber immer noch jene aus Holz bekommt, wo man ein Teil in die ausgestanzte Form legen muss. Oder die gezählt hat, dass es auf den Tischen 98 Buntstifte hat – aber keinen interessiert es. Diese Ignoranz seitens der Erwachsenen und das Unverständnis der anderen Kinder bringen sie zum Verzweifeln und sind Erklärungen für ihr Verhalten.

Die Erwachsenen sind gefordert!

Um es hier einmal ganz klar zu formulieren: In diesem Fall ist es nicht Mia, die sich anpassen muss! Sie ist eine tolle junge Person, die noch keinen anderen Weg kennt, um auf ihre Nöte aufmerksam zu machen.
Es liegt einerseits an den Erzieherinnen, sich über hochbegabte Kinder in der KiTa weiterzubilden und andererseits an Mias Mamma (samt dem getrennt lebenden Papa!), für die Bedürfnisse ihrer Tochter einzustehen.

Wenn du denkst, dass ich dich dabei unterstützen kann, melde dich doch einfach!

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