Manchmal reicht ein Schulmorgen, um die ganze Komplexität kindlicher Wahrnehmung zu sehen.
Heute war ich wieder unterwegs – zu einem hochbegabten Jungen, bei dem der Verdacht auf eine Autismusspektrumstörung* besteht.
Ein leiser Schüler, blitzschnell im Denken, akribisch in jedem Detail. Seine Heftseiten sind makellos, seine Gedankengänge glasklar. Doch die Gruppenarbeit? Der blanke Stress. Nicht wegen der Aufgabe, sondern wegen der Menschen. Zu laut, zu unberechenbar, zu viel. Und oft auch unter seinem Niveau.
Wenn Hochbegabung und Autismus sich berühren
Es gibt Kinder, deren Begabung sich nicht nur im Denken zeigt, sondern auch in der Intensität ihrer Wahrnehmung. Hochbegabte Kinder mit autistischen Anteilen nehmen Reize ungefiltert auf, bemerken jede Unstimmigkeit, jede Veränderung, jeden Ton zu viel.
Während die einen ihre Besonderheit als Talent feiern dürfen, wird dieselbe Intensität bei anderen als „sonderbar“ oder „sozial schwierig“ interpretiert. Dabei geht es in beiden Fällen um das Gleiche: eine andere Art, die Welt zu verarbeiten.
Hochbegabung und Autismus können sich überlagern – man spricht von 2e-Kindern (twice exceptionals). Sie denken schnell, vernetzt und oft abstrakt, reagieren aber gleichzeitig sensibel auf soziale und sensorische Reize. Diese Kombination ist nicht selten – aber oft unerkannt.
Das Maskieren bei hochbegabten autistischen Kindern
Viele hochbegabte Kinder mit autistischen Anteilen entwickeln schon früh die Fähigkeit, sich anzupassen – oft weit über ihr eigentliches Entwicklungsalter hinaus. Dieses sogenannte Maskieren (engl. camouflaging) beschreibt das bewusste oder unbewusste Verbergen autistischer Verhaltensweisen, um „normal“ zu wirken und soziale Akzeptanz zu sichern. Sie beobachten ihre Mitschüler:innen genau, imitieren Gestik, Tonfall oder Mimik und versuchen, passende Reaktionen zu erlernen wie Formeln in Mathematik. Von aussen wirken sie sozial kompetent, freundlich, vielleicht etwas eigen, aber unauffällig. Im Innern jedoch kostet diese ständige Selbstregulation enorme Energie.
Gerade hochbegabte Kinder, die sich im Autismusspektrum bewegen, können das besonders gut, weil ihr kognitives Verständnis und ihre Beobachtungsgabe ihnen ermöglichen, soziale Codes analytisch zu durchschauen. Sie „lernen“ Sozialverhalten – sie fühlen es aber oft nicht intuitiv. Dadurch entsteht ein gefährlicher Widerspruch: Sie werden von Erwachsenen häufig als „gut integriert“ wahrgenommen, während sie innerlich erschöpft, überfordert oder entfremdet sind. Viele hochbegabte Menschen aus dem Autismusspektrum beschreiben später das Gefühl, eine Rolle zu spielen oder „falsch“ zu sein.
Langfristig kann intensives Maskieren zu chronischem Stress, sozialer Angst, Depression oder Burnout führen – nicht selten erst sichtbar, wenn das Kind zu Hause „zusammenfällt“, nachdem es den Schultag perfekt gemeistert hat. Lehrpersonen und Eltern sollten deshalb aufmerksam werden, wenn ein Kind in der Schule überangepasst wirkt, aber zu Hause auffällig erschöpft, reizbar oder still ist.
Echte Unterstützung bedeutet hier: sichere Räume, in denen das Kind nicht performen muss, sondern sein darf. Verständnisvolle Erwachsene, die Echtheit vor Anpassung stellen – und Schule, die Unterschiedlichkeit nicht mit Abweichung verwechselt.
Was diese Kinder wirklich brauchen
Keinen Sonderstatus.
Kein Mitleid.
Sondern Sicherheit, Struktur, Echtheit und Verständnis.
Lehrpersonen und Eltern, die übersetzen können – zwischen Welt und Wahrnehmung, zwischen Anforderung und Bedürfnis. Menschen, die nicht vorschnell bewerten, sondern verstehen, dass auffälliges Verhalten fast immer ein Ausdruck ist: von Überforderung, Reizflut oder dem Bedürfnis nach Kontrolle.
Wer hinschaut, erkennt: Diese Kinder sind keine Störung im System. Sie sind das Signal, dass unser System lernen darf, Vielfalt als Stärke zu begreifen.
Schwierige Identifikation
Die Diagnose einer Autismusspektrumstörung (ASS) bei hochbegabten Kindern ist besonders schwierig, weil sich zwei komplexe Phänomene gegenseitig überlagern und teilweise kompensieren: die aussergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten einerseits – und die neurodivergente Wahrnehmungsverarbeitung andererseits.
Hochbegabte Kinder verfügen oft über eine beeindruckende kognitive Anpassungsfähigkeit. Sie analysieren soziale Situationen, erkennen Muster und lernen, durch Beobachtung die Verhaltensweisen anderer zu imitieren. Dadurch können sie Defizite in sozialer Intuition eine Zeit lang überdecken – etwa, indem sie lernen, wann man lächelt, nickt oder „Smalltalk“ betreibt. Ihr hoher Intellekt erlaubt es ihnen, fehlende soziale Intuition mit logischem Denken zu kompensieren. Diese scheinbare soziale Kompetenz führt dazu, dass viele Fachpersonen und Lehrpersonen zunächst kein autistisches Verhalten vermuten.
Gleichzeitig zeigen hochbegabte Kinder häufig autismusähnliche Merkmale, die fälschlicherweise ihrer Begabung zugeschrieben werden: der extreme Detailfokus, das Bedürfnis nach Kontrolle, das Beharren auf Routinen oder die starke emotionale Reaktion auf Reizüberflutung. In pädagogischen Kontexten werden solche Merkmale oft als „Perfektionismus“, „Sensibilität“ oder „Eigenwilligkeit“ interpretiert – nicht als Anzeichen einer neurobiologischen Besonderheit.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele hochbegabte Kinder ein hohes Sprachverständnis und differenziertes Ausdrucksvermögen besitzen. Das lässt sie reifer erscheinen, als sie emotional und sozial tatsächlich sind. Lehrpersonen und Diagnostiker:innen lassen sich dadurch leicht täuschen: Ein Kind, das sich eloquent über Quantenphysik unterhält, wird selten mit dem Autismusspektrum in Verbindung gebracht.
Hinzu kommt das bereits erwähnte Maskieren (Camouflaging): Viele dieser Kinder haben früh gelernt, ihre Andersartigkeit zu verbergen – aus dem Wunsch heraus, dazuzugehören. Das führt dazu, dass sie im Unterricht angepasst und unauffällig wirken, während sie innerlich erschöpfen. Erst wenn der Energiepegel sinkt – zuhause, in Übergangsphasen oder in der Pubertät – treten Überforderung, Rückzug oder emotionale Krisen offen zutage.
In der Diagnostik braucht es deshalb nicht nur Testverfahren, sondern ein differenziertes Beobachten über mehrere Kontexte hinweg – Schule, Familie, Freizeit. Entscheidend ist, ob ein Kind dauerhaft unter sozialer und sensorischer Belastung leidet, auch wenn es nach aussen hin kompetent wirkt.
Hochbegabte im Autismusspektrum zu erkennen, heisst also, unter die Oberfläche der Intelligenz zu schauen – und nicht nur das, was ein Kind kann, sondern vor allem auch was es kostet, im Alltag zu funktionieren.
Schule als Ort des Verstehens
Wenn wir lernen, hinter Verhalten zu sehen, verändert sich Unterricht.
Dann geht es nicht mehr darum, Kinder „passend“ zu machen – sondern Räume zu schaffen, in denen Anderssein sichtbar und wirksam werden darf.
Eine Schule, die das versteht, bringt nicht nur Begabung zum Blühen – sondern Menschlichkeit.
*Man spricht heute nicht mehr von „Autismus“ oder Autist:innen, weil festgestellt wurde, dass es den Autisten nicht gibt. Autismus weist eine sehr breite Palette von Verhaltensweisen auf, sodass man heute von einem Spektrum spricht, in dem sich die Menschen bewegen.
Hilfestellungen und Informationen findest du u. a. bei Autismus Schweiz – Informationen und Unterstützung für Schulen.



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