Als meine Kollegin Karin Kahl von Menschensbildung vor ein paar Wochen eröffnete, dass sie den Monat Mai unter das Thema Kreativität stellen würde, meldete ich mich bei ihr. Das Thema ist mir eine Herzensangelegenheit und die Frage nach dem Zusammenhang von Hochbegabung und Kreativität habe ich immer wieder auf dem Radar.
Karin lud mich dann auch prompt zu einem Austausch über die beiden spannenden Themen ein. Dieses Zoom-Gespräch kannst du dir hier anschauen.
Was sagt die Forschung?
Schon relativ früh und dann immer wieder beschäftigte sich die Forschung mit einem möglichen Zusammenhang zwischen Hochbegabung und Kreativität.
So hat beispielsweise das “Marburger Hochbegabtenprojekt“ die Kreativität intellektuell Hochbegabter und durchschnittlich Begabter in Primar- und Sekundarstufe untersucht. Dabei wurde bei hochbegabten Primarschülern wie auch bei jugendlichen Hochbegabten ein höherer Gesamtkreativitätswert festgestellt, als bei ihren durchschnittlich begabten Kolleg:innen. Diese festgestellten Werte blieben auch über einen längeren Zeitraum weitgehendst konstant (Stangl, 2023).
Harrison, Lubinski & Benbow (2013 bei Stangl, 2023) untersuchten in einer Längssschnittstudie ungefähr 5000 Hochbegabte über einen Zeitraum von 50 Jahren. Dabei haben sie auch 320 besonders hochbegabte Jugendliche über einen Zeitraum von 25 Jahren begleitet. Weitere 25 Jahre danach, also im Alter von 38 Jahren, wurden die Probanden erneut überprüft: Wie verlief ihr Studium? Wie fiel die Berufswahl aus? Verlangte diese Tätigkeit kreative Leistungen?
Nur 63 % der Hochbegabten erreichten einen höheren akademischen Grad (z.B. Master), und bloss 42 % promovierten später. Ihrer mathematischen oder sprachlichen Fähigkeiten entsprechend teilten sie sich in drei Berufsgruppen auf:
Jugendliche mit hohen sprachlichen Fähigkeiten wurden z.B. Schriftsteller, Mediziner oder Verkäufer.
Jugendliche mit hohen mathematischen Verständnis entschieden sich für Ingenieur, Techniker oder Mathematiker.
Jugendliche mit in etwa gleich ausgeprägtem mathematischen und sprachlichen Talent wurden später Juristen.
Speziell erscheint, dass es nur wenige dieser Hochbegabte produktiv und kreativ waren. So hatten zwar die Jugendlichen herausragende mathematische Talente oder sprachliches Können, doch nur wenige der besonders Hochbegabten konnten ihr Potenzial später im Beruf einsetzen. Unter den Hochbegabten gab eine ähnliche Spanne an Topleistern und durchschnittlich produktiven Beschäftigten wie unter Normalbegabten (Stangl, 2023).
Und was sagt die Praxis?
In der Praxis sehen wir verschiedene Ausprägungen von Kreativität. Immer wieder gibt es Kinder, die schon sehr früh durch eine Begabung auffallen. Oft sind das Stärken im künstlerischen Bereich. So ist z. B. eine meiner Schülerinnen, die ich die ersten zwei Primarschuljahre begleiten durfte, heute eine gefeierte Designerin, die u.a. auch den Tunnel zu „the Circle“ im Flughafen Zürich gestalten durfte. Ihr Potenzial war schon als Sechsjährige unübersehbar – trotzdem brauchte es den „Biss“, um dranzubleiben.
Ein anderer Schüler, der vor 30 Jahren bei mir die Schulkarriere startete, fiel damals schon mit seinem fulminanten Zahlenverständnis und den grossartigen Rechenfähigkeiten auf. Auch das ist ein Zeichen von Kreativität: Neue Wege für mathematische Problemstellungen zu finden. Heute hat der Mann übrigens eine Professur in Informatik inne.
Unterschiede der Kreativität
Wir unterscheiden in der Kreativität verschiedene Level: Psychologie-Professor Mihaly Csikszentmihalyi, zwischen der „kleinen“ Alltags-Kreativität, der „professionellen“ Kreativität und der grossen, eminenten, Kreativität.
Wenn Kinder (oder natürlich auch Erwachsene) etwas erfinden oder gestalten, handelt es sich meist um die Alltagskreativität. Das ist keineswegs wertend gemeint!
Eine meiner Schülerinnen, die mir schon früh Collagen aus Knöpfen und Textilien schenkte, ist Schneiderin geworden und nahm als junge Frau sogar an der Berufsolympiade teil. Sie gründete später eine kleine Firma, die sich um Babys Wärme um den Hals kümmerte. Sie lebt damit ihre professionelle Kreativität.
Die eminente Kreativität ist dort sichtbar, wo Menschen Grosses, Weltbewegendes erfinden. Gern wird dabei Thomas Alva Edison, der Erfinder der Glühbirne, als Beispiel zitiert.
Kann Kreativität gefördert werden?
Natürlich! Dazu habe ich mich vor drei Jahren schon in einem Blogartikel geäussert 😉 . Aber ich kann es nicht genug betonen: Es geht darum, Kindern Freiräume zu geben, in denen sie ausprobieren und scheitern, erneut probieren und reüssieren dürfen. Das heisst aber keinesfalls, dass wir sie einfach unbeobachtet ihrem Schicksal überlassen sollen! Vielmehr braucht es manchmal ein gewisses Mass an Ermutigung oder einen dezenten Stupser. Dieses Fingerspitzengefühl zu entwickeln, kann einer Gratwanderung gleichkommen. Vor allem hochbegabte Kinder können sehr grantig reagieren, wenn sie merken, dass man sie dezent auf eine Spur bringen will! Mein älterer Sohn konnte dann manchmal wirklich ausrasten und alles hinschmeissen. Wortwörtlich.
Spielzeug dosieren
Wenn ich sehe, wie manche Kinderzimmer der Spielzeugabteilung eines Warenhauses gleichen, packt mich das nackte Grauen. Ich plädiere für weniges, dafür multifunktionales Spielzeug anzuschaffen: Knete, Bauklötze, die gute alte Holzeisenbahn, später dann vielleicht Cuboro oder Gravitrax – einfach Dinge, die die Fantasie anregen. Ansonsten gibt es auch Musikinstrumente aus der Küchenschublade und Telefongespräche mit aus Schnur verbundenen Joghurtbechern. Klingt old fashioned? Macht nichts.
Einfache Stimuli
Was eigentlich jedes junge Kind braucht, sind ganz grundlegende Sinneserfahrungen. Wühlen in Sand und Erde, Gras- und Waldboden unter den (nackten) Füssen spüren, Naturgeräusche hören und nachahmen, gemeinsames Singen und Geschichten erzählt bekommen… das sind die Impulse, die den Geist anregen. Wem ständig alles fixfertig vorgesetzt wird, wird nie lernen, selber etwas zu erschaffen.
Unser Gehirn, und schon gar nicht jedes von jungen Kindern, ist eigentlich nicht dafür ausgelegt, auf einer kalten Glasplatte zweidimensional neue Dinge zu erfahren!
Hochbegabte sind mit einer substanzielleren Kreativität gesegnet
Jeder Mensch trägt die Anlage zum Erschaffen von mehr oder weniger neuen, originellen Dingen in sich. Aber meine Beobachtungen in der Praxis decken sich mit jenen der Wissenschaftler:
Bereits in der kleinen Kreativität zeigt sich bei hochbegabten Kindern ein gehaltvollerer „Output“, der tiefer geht, mehr Substanz aufweist, als bei den normal begabten Kolleg:innen.
Und die Stufe professioneller oder vielleicht sogar eminenter Kreativität erreicht nur, wer dran bleibt, sich mit Haut und Haar einer Domäne verschreibt und bereit ist, gefühlte 100 Mal von vorne zu beginnen.
Verwendete Literatur
Stangl, W. (2023, 21. Mai). Hochbegabung und Kreativität – Pädagogik-News.
https://paedagogik-news.stangl.eu/hochbegabung-und-kreativitaet.
Rost, D. H. Intelligenz, (2009) Beltz- Verlag
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