Mädchen Globus

Wann ist ein Klassensprung sinnvoll?

Ende Oktober 2022 fand in Zürich erstmals das Symposium Hochbegabung, organisiert vom Elternverein hochbegabter Kinder, statt. Neben Koryphäen wie Dr. Dr. Gert Mittring, u.a. 11-facher Weltmeister im Kopfrechnen, Fachleuten wie Dr. Beat A. Schwendimann, Leiter der pädagogischen Arbeitsstelle des Schweizerischen Lehrervereins und Dr. Markus Zürcher, Generalsekretär, Mitglied der Geschäftsleitung SAGW, hatten wir die Ehre, auch Dr. Annette Heinbokel begrüssen zu dürfen. Frau Dr. Heinbokel hat schon sehr früh zum Klassensprung geforscht und ich freute mich auf ihre Ausführungen.

In diesem Blogartikel verknüpfe ich ihre Ausführungen mit meinen Erfahrungen.

Viel Erfahrung

Bereits 1967, als Annette Heinbokel als junge Frau als Au-pair in London lebte, kam sie durch den Sohn ihrer Gastfamilie mit dem Thema Hochbegabung in Kontakt. Seit dem hat es sie nie mehr ganz losgelassen.
Von 1971 bis 2011 unterrichtete sie als Lehrerin an sechs verschiedenen Schulen und setzte sich bis Mitte der 90er Jahre fast ausschliesslich in ihrer Freizeit für Hochbegabte ein. Seit Ende der 70er Jahre engagiert sie sich auch für die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind. Erst Ende der 90er Jahre keimte seitens der Schulverwaltung ein bisschen Interesse für ihre ausserschulischen Tätigkeiten auf. Man überlegte sich, ob die Erkenntnisse von den Kongressen für die Schule nicht doch nützlich sein könnten.
Frau Heinbokels Forschung bezog sich zwar hauptsächlich auf Akzeleration (also das Beschleunigen, das Überspringen), aber in ihrem Schulalltag überwog das Enrichment.

Enrichment

An dem Drehtürmodell an der Oberstufe Belm (1997-2004) nahmen in sieben Jahren mehr als 300 SchülerInnen teil, im selben Zeitraum übersprangen sechs Kinder eine Klasse an der O-Stufe. Zwar können wir beim Drehtürmodell viele Kinder auffangen, aber Kinder mit einem wirklich hohen Potenzial brauchen etwas anderes. Sie brauchen mehr. Mit einem klugen Enrichment, also der Anreicherung, sozusagen der Verbreiterung und Vertiefung des Unterrichtsstoffes, kann sehr viel an Unterforderung aufgefangen werden. Allerdings ist je nachdem der Vorbereitungsaufwand gewaltig. Auch ich sehe an der Schule Rothenburg, wo ich immer noch in einem 50%-Pensum in der Begabungs- und Begabtenförderung unterrichte, dass es oft am sinnvollsten ist, wenn man Kinder ziehen lässt. Nicht in die Privatschule, aber in die nächst höhere Klasse.

Frau Heinbokel weist darauf hin, dass Unter- und Überforderung oft gleiche Symptome erzeugen. Also können Kopf- oder Bauchschmerzen, Aggression sich selbst oder anderen gegenüber sowohl auf zu wenig neue Inputs als auch auf zu viel Neues zurückgeführt werden. Es gilt auf jeden Fall ganz gut hinzuschauen, denn manchmal sind auch ganz andere Ursachen für (psycho-) somatische Krankheiten verantwortlich.

Falls Lernende aber tatsächlich massiv unterfordert sind und Enrichment nicht infrage kommt, drängen sich je nach Alter des Kindes verschiedene Massnahmen auf:

Frühe Einschulung

Grundsätzlich ist es von eminenter Wichtigkeit, dass wir auf die pädagogischen und psychologischen Fähigkeiten unserer Kindergartenlehrpersonen zählen können. Als Eltern scheint es mir unabdingbar, den Fachkräften einen Vertrauensvorschuss zu geben und selber transparent zu sein. Wenn ein Kind beispielsweise schon auf Hochbegabung abgeklärt wurde, würde ich damit nicht hinter dem Berg halten. Das heisst nun aber nicht, dass die Kindergärtnerin das Kind nur Blätter ausfüllen lässt. Denn auch durch Spielen lernen Kinder sehr viel. Aber eine aufmerksame Lehrperson, die sorgfältig beobachtet, wird merken, wann einem Kind die Angebote nicht mehr reichen und Eltern darauf aufmerksam machen. So ist es beispielsweise möglich, dass Kinder jeweils einen Halbtag in einer 1. Klasse mittut und bei guten Erfahrungen auch mal für ein paar Wochen voll am Unterricht teilnimmt. Klappt auch das, steht einer vorzeitigen Einschulung auch unter dem Jahr nichts im Wege. In dieser „Schnupperphase“ sollte das Kind aber immer auch in seine Stammklasse zurückkehren können, wenn es sich nicht wohlfühlt.
Vielleicht entscheidet man sich aber auch dafür, dass das Kind noch das Kindergartenjahr zu Ende besucht und dann direkt in die 2. Klasse einsteigt. In so einem Fall ist eine umsichtige Förderplanung, am besten mit der schulischen Heilpädagogin oder der Begabtenförderlehrperson für die verbleibende Kindergartenzeit besonders wichtig. Optimal bei einem unterforderten jungen Kind ist natürlich auch die Basisstufe, die die Kinder des ersten Zyklus‘ (2 Jahre Kindergarten, 1. u. 2. Klasse) auch mal in drei Jahren durchmarschieren lässt.

Egal, welche Entscheidung getroffen wird: Wichtig sind offene Kommunikation und Transparenz. Eltern wie Lehrpersonen wollen stets nur das Beste für das Kind!

Akzeleration im Primarschulalter

Als langjährige Lehrperson möchte ich betonen, dass es trotz viel gutem Willen einfach nicht möglich ist, die ganze Zeit so zu unterrichten, dass ein Kind weder unter- noch überfordert ist. Erst wenn eine Unter- oder Überforderung lang anhaltend ist, kann es zu Problemen kommen. Ein gesundes Kind verkraftet gelegentliche fehlende Passung. Bei dauernder Überforderung treten zuerst Sorge, dann Ängste auf. Eine Unterforderung hingegen bedeutet nicht nur Langeweile, auch sie kann Ängste und allenfalls auch psychosomatische Beschwerden zur Folge haben. Vor allem dann, wenn keine Änderung in Sicht ist (vgl. Heinbokel, Handbuch Akzeleration, LIT-Verlag, 2012).

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll ist, einen Klassensprung so früh wie möglich zu initiieren. Einerseits um unerwünschten Nebeneffekte wie Schulmüdigkeit, Leistungs- oder gar Schulverweigerung keine Chance zu geben und andererseits um entstandene Freundschaften nicht als Grund gegen das Springen ins Feld zu führen. Oft ist es ja so, dass Kinder aus Angst, ihre Freunde zu verlieren, zögern, die Klasse zu wechseln. Letzten Frühling hat mir ein Mädchen, das Mitte Schuljahr von der 1. in die 2. Klasse und aus strukturellen Gründen auch gleich das Schulhaus wechselte, gesagt: „Wissen Sie, Frau Mazzotti, ich bin so privilegiert: Ich habe in der alten Klasse Freunde, mit denen ich mich in der Freizeit treffen kann und bekomme in der neuen Klasse die Chance noch mehr Freunde zu gewinnen. Das hat nicht jeder!“. So ein kluges, kleines Girl!
Sowohl Frau Heinbokel wie ich argumentieren zu diesem Thema übrigens ähnlich wie die Siebenjährige.

Klassensprung in der Oberstufe

Ich selber habe damit nur wenig Erfahrung, weiss aber, dass es Kinder gibt, denen genügt ein einziger Klassensprung nicht. Auch einem meiner Söhne wurde im Gymnasium noch ein Wechsel von der 3. in die 5. Klasse angeboten. Aber da ein Jahr zuvor die Klassen frisch gemischt wurden und er sich das erste Mal in seiner Schulkarriere sozial gut aufgehoben fühlte, entschied er sich dagegen. Das scheint mir wichtig: Akzeleration ist immer ein Angebot. Und dieses kann auch abgelehnt werden. Eine wiederholte Akzeleration wird übrigens „Radikale Akzeleration“ genannt (Heinbokel, S. 133).

Es kann auf der Oberstufe aber durchaus eine gute Idee sein, die Akzeleration im Sinne einer Gasthörerschaft in einem einzelnen Fach durchzuführen. Vielleicht wird es dann auch ein Herantasten an einen definitiven Sprung. Frau Heinbokel erzählte in Zürich von einer Schülerin, die am Mathematikunterricht in einer höheren Klasse teilnahm und darum je eine Lektion in Geschichte, Bio, Sport und Englisch versäumte. Da aber auch in diesen Fächern ihre Leistungen deutlich über dem Durchschnitt der Klasse lagen, war es möglich, dass das Mädchen den verpassten Stoff – wo überhaupt nötig – während der übrigen Mathestunden ihrer Klasse selbstständig aufholte. Durch Vortests könnte natürlich auch abgefragt werden, ob die Schülerin die Jahreslernziele schon beherrscht und dadurch ganz vom Matheunterricht in ihrer Klasse befreit werden kann. Während dieser entstandenen Freiräume könnte sie ein neues Fach dazunehmen, sich auf Mathe-Wettbewerbe (z.B. Känguru oder bei K.re.sch) vorbereiten.

Trotz Minderleistung überspringen

Die Lust am Lernen kann einem aus verschiedenen Gründen vergehen. Bei Hochbegabten stehen dabei unendliche Langweile (es ist buchstäblich sterbenslangweilig oder eben todlangweilig) und die Angst vor dem Titel des Superstrebers im Vordergrund.
Für Kinder und Jugendliche, die schon in eine Minderleistung abgerutscht sind, kann der Wechsel in die nächsthöhere Klasse hart sein. Wer nie gelernt hat, zu lernen und verlernt hat, sein gespeichertes Wissen abzurufen, mag unter Umständen ganz schön ins Trudeln geraten. Allerdings sollten ja grundsätzlich alle Springer-Kinder ein halbes Jahr Zeit haben, sich einzufinden und Rückstände aufzuholen. In aller Regel klappt dies früher, aber gerade bei Minderleistenden kann hier Support von Lehrpersonen und Eltern nötig sein, damit das Kind durchhält.

Langzeiterfahrungen mit dem Klassensprung

Dr. Annette Heinbokel verfolgt schon lange die Schullaufbahnen von Springerkindern und bestätigte in Zürich, was auch ich seit 2004 feststelle: In aller Regel verlaufen die Schulbiografien nach dem Sprung unauffällig. Natürlich mag es Troubles im Hormonchaos der Pubertät geben. Vielleicht kreuzen sogar eine Repetition oder ein (interimistischer) Schulabbruch die Wege des Springerjugendlichen. Aber wer sagt uns, dass dies ohne Klassensprung nicht passiert wäre? Jede Massnahme, die wir treffen, ist exakt für den jeweilgen Moment angedacht. Keiner von uns besitzt eine Kristallkugel, um in die Zukunft zu schauen. Leider. Oder vielleicht zum Glück?

Interessanter Austausch mit Frau Dr. Annette Heinbokel

Generelle Gelingensbedingungen für einen Klassensprung

Klassensprung wie vorzeitige Einschulung brauchen gewisse Rahmenbedingungen, damit die Massnahme erfolgreich ist:

  • Springer-Kandidat:innen brauchen nicht nur gute kognitive Voraussetzungen, sondern auch eine gute Arbeitshaltung und Motivation, eventuelle Rückstände auszuhalten und aufzuholen.
  • Der ideale Zeitpunkt ist dann, wenn die Unterforderung so eklatant wird, dass sich der Wechsel quasi aufdrängt.
  • Die abnehmende Lehrperson sollte informiert sein, wo SuS besondere Bedürfnisse oder Wissenslücken aufweisen.
  • Das Springerkind sollte eine Patin oder einen Paten in der neuen Klasse bekommen, der ihm bei der Eingewöhnung helfen kann. Diese unterstützenden Kinder sollten innerhalb der Klasse einen hohen Status haben, damit das Springerkind davon profitieren kann.
  • Die Kinder sollten möglichst keine ernsten sozio-emotionale Probleme haben
  • Die Körpergrösse sollte nur dann als Killer-Kriterium in Betracht gezogen werden, wenn das Kind extrem sportlich ist und an Wettkämpfen teilnehmen will.
  • „Schnupperphasen“ von mindestens 3 Wochen sind wichtig!
  • Das Kind muss den Klassensprung wollen!
  • Der Entscheid zum Sprung sollte auf Fakten, nicht auf Mythen basieren.

Zu guter Letzt noch eine Anmerkung, die wohl auch in meine Blogparade „Wunschzettel an die Schule“ passen würde: Die beste Gelingensbedingung wäre eine Schule, in der Kinder frei über ihre Lernzeit verfügen können und sich mit den Inhalten, die sie interessieren, in ihrem Tempo und auf ihrem Niveau auseinandersetzen dürfen!

2 Gedanken zu „Wann ist ein Klassensprung sinnvoll?

  1. Von: An

    Sehr interessanter Artikel, vorallem weil ich hauptsächlich Gegenargumente gegen Sprünge höre, die ich aber schwer nachvollziehen kann. Gefühlt haben Sprünge nur bei den wenigen durch die Presse bekannten sehr jungen Abiturienten geklappt. Bei allen anderen gibt es die Superkatastrophe spätestens, wenn die Klassenkameraden in die Pupertät kommen oder allerspätestens, wenn die anderen ausgehen dürfen oder wenn die anderen ihren Führerschein machen.
    Daher noch eine Frage zum Artikel:
    Im Artikel steht: „Der Entscheid zum Sprung sollte auf Fakten, nicht auf Mythen basieren.“ Was sind denn die Mythen?

    Antworten
    1. Von: Dina Mazzotti

      Entschuldige die späte Antwort, liebe Andrea!
      Die Mythen sind genau die, die du aufzählst: „Es klappt allerhöchstens zwei, drei Jahre“ oder „das Kind bleibt die ganze Schulzeit isoliert, weil es emotional und sozial noch nicht so weit ist“, oder „Es wird durch den Klassensprung verwöhnt und anspruchsvoll“ etc. Mehr Mythen rund um Hochbegabung allgemein findest du auch in meinem gleichnamigen Blogartikel.
      Meine Erfahrung nach der Begleitung von annähernd 50 Klassensprüngen: Wir entscheiden immer nur für den Moment. Aber nicht zu springen, weil dann evt. in drei, vier Jahren Schwierigkeiten auftauchen könnten, halte ich keine kluge Idee. Natürlich „dürfen“ sie im Sprachaufenthalt allenfalls nicht ins Pub, aber mit Ausgang treten gar nicht so viele Probleme auf, wenn man als Eltern gut abwägt und im Gespräch bleibt. Und den Führerschein machen längst nicht mehr alle jungen Menschen gleich mit 18.
      Vorauseilende Problemsuche halte ich für den absolut falschen Ansatz! Jeder Entscheid wird immer nur für den Moment getroffen, weil wir nicht hellsehen können. Zum Glück!

      Herzliche Grüsse
      Dina

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