Innerhalb einer Woche kamen in letzter Zeit gleich mehrere Anfrage von Eltern, die beinahe ein bisschen entschuldigend klangen. Alle waren in ähnlichem Wortlaut gehalten, nämlich in etwa so: „Unser Kind war schon immer ein bisschen anders als die anderen, es ist (und da kam eine ganze Aufzählung von Eigenschaften von sehr sensibel, bis hypochondrisch und extrem ungeduldig) und kürzlich hat (auch hier variieren die Personen von Kinderärztin über Grossvater zur Lehrperson) gesagt, vielleicht stecke hinter der aktuellen (Traurigkeit, Wut, Lustlosigkeit) einfach eine unentdeckte Hochbegabung. Also wir glauben das aber eigentlich nicht. Unser Kind ist einfach ein bisschen merkwürdig. Das ist alles.“
Den Dingen auf den Grund gehen
Nicht immer, aber oft kommen Eltern nach einem kostenlosen telefonischen Vorgespräch zum Schluss, dass es sinnvoll sein könnte, mit mir gemeinsam eine „Auslegeordnung“ vorzunehmen. Als Vorbereitung maile ich ihnen einen Fragebogen zu, den du als „light Variante“ hier downloaden kannst. Wer mit mir zusammenarbeiten möchte, darf noch ein paar Fragen mehr beantworten 😉. Es gibt Eltern, die füllen den Fragebogen getrennt aus und vergleichen ihn dann. Das kann zu sehr spannenden Gesprächen und vertieften Einsichten führen. Meistens klappt es auch, dass ich diese Fragebogen ein paar Tagen vor einem gemeinsamen Treffen erhalte, so dass ich mich auf die Situation einstellen kann und vielleicht auch schon ein paar Knackpunkte sehe.
Eltern sind Experten für ihr (merkwürdiges) Kind
Es ist mir extrem wichtig, dass die Eltern merken, dass ich sie ernst nehme. Schliesslich kennen sie ihr Kind am bestens und am längsten. Zwar kenne ich den ironischen Spruch „Es gibt mehr Eltern von hochbegabten Kindern als hochbegabte Kinder“, aber ich glaube daran, dass Eltern ein untrügliches Gefühl dafür haben, wenn mit ihrem Kind etwas nicht in Ordnung ist.
Das heisst keinesfalls, dass es nicht in Ordnung wäre, wenn ein Kind hochbegabt ist! Aber, und das scheint mir wichtig festzuhalten, oft ist es eben so, dass eine unentdeckte Hochbegabung früher oder später zu Problemen führt, wenn das Kind keine Chance hat, sein Potenzial zu leben. Wenn sich ein Kind „merk-würdig“ benimmt, dann besteht da das Anliegen, dass seine Bezugspersonen eben etwas merken.
Es gibt natürlich Lehrpersonen oder Schulmodelle, die den Kindern so viel Raum zur persönlichen Entfaltung geben, dass dieses hohe Potenzial zum Tragen kommt und sich in anreichernden Massnahmen entfalten darf– ohne Merkwürdigkeiten zu entwickeln. Perfekt so! Genau so wünschte ich mir die Schule für alle Kinder!
Ich träume von der öffentlichen Schule als ein Ort, an dem jedes Kind in seinem Tempo wachsen und lernen darf, fächer- und stufenunabhängig. Bis dahin wird es leider noch ein bisschen dauern.
Intelligenztestungen brauchen eine Fragestellung
Wie ich an anderer Stelle schon festgehalten habe, halte ich nichts von psychometrischer Diagnostik um „einfach“ mal zu schauen, welchen IQ oder welches Intelligenzprofil ein Kind aufweist. Eine Intelligenzevaluation ist immer eine Momentaufnahme, abhängig von verschiedenen Faktoren. Zwar sind gute Tests so aufgebaut, dass hohe Ergebnisse nie Zufall sein können, aber sie sind immer nur ein Puzzleteil im ganzen Mosaik. Zudem stellen sich gerade auch sensible Kinder die Frage, was denn an ihnen „falsch“ sei, dass sie getestet werden.
Ein Kind, das jeden Morgen Bauchweh hat, wenn es zur Schule soll oder sich gar weigert, da hin zu gehen, ein Mädchen das regelmässig ausflippt, wenn es darum geht, dass es die Hausaufgaben machten sollte, ein Junge, der teilnahmslos dasitzt und sich im Unterricht gar nicht mehr meldet… diesen Kindern hilft allenfalls eine Intelligenzevaluation weiter. Es ist gut möglich, dass sie eben nicht bloss „ein bisschen merkwürdige Kinder“ sind, sondern schlicht und einfach unterfordert, gelangweilt, ihren Kolleg:innen weit voraus. Teile der eigenen Lebenszeit einfach untätig absitzen zu müssen, kann durchaus zu den obergenannten Symptomen führen.
Leider sind sehr viele Schulpsychologische Dienste dermassen ausgebucht, dass es bis zu einem Termin mehrere Monate dauern kann. Eine Zumutung für alle Beteiligten, am meisten natürlich für das betroffene Kind. Wenn es Glück hat, trifft es auf eine Lehrperson, die etwas von pädagogischer Diagnostik versteht und selber auf die Idee kommt, dass das Kind hohes Potenzial aufweist und entsprechend handelt. Immer wieder gebe ich Eltern und Lehrpersonen auch den Tipp das Kind quasi „auf Verdacht“ zu fördern. Spielt es letztendlich eine Rolle, ob das Kind das Etikett „hochbegabt“ bekommt oder nicht? Wenn wir es durch Enrichmentangebote oder ein spezifisches Mentorat wieder auf einen positiven Weg bringen können, spielt es letztlich keine Rolle, ob es 120 oder 130 IQ-Punkte aufweist. Hauptsache, es ist glücklich.
Mein Kind ist nicht merkwürdig sondern hochbegabt– was nun?
Oft brechen bei der Besprechung hoher Testergebnisse Eltern in Tränen aus, weil eigene Geschichten, verpasste Chancen und unverarbeitete Erlebnisse wieder hochkommen. Nicht selten ist es nämlich so, dass Eltern etwas geahnt haben, es aber nicht wahrhaben wollten.
Relativ häufig werde ich gefragt, ob und wie sie dem Kind das Ergebnis kommunizieren sollen.
Ich finde unbedingt, dass man mit Kindern über das Testresultat reden soll! Eigentlich schon im Voraus… Dabei ist wichtig, dass das Kind weiss, dass es als Person unabhängig von einer Zahl geliebt und wertgeschätzt wird!
Immer wieder stelle ich leider auch fest, dass die Kinder gar nicht so recht wissen, was sie bei mir jetzt machen sollen und wieso sie überhaupt da sind. Vielleicht weil sie merkwürdige Kinder sind? Dann erkläre ich ihnen altersentsprechend, was wir gemeinsam tun werden.
So ist es auch naheliegend, dem Kind zu erzählen, was bei der Intelligenzevaluation herausgekommen ist. Viele Eltern tun sich damit schwer. Aber mit der Intelligenz ist es wie mit der Körpergrösse: Es gibt eine Normverteilung. Viele bewegen sich im Durchschnitt, einige sind besonders klein, andere sehr gross. Es ist nichts, worauf man sich etwas einbilden kann. Es ist einfach so. Eine Laune der Natur und ein paar Umwelteinflüssen.
Ich kenne so viele Kinder, für die es eine grosse Erleichterung war, endlich zu wissen, wieso sie gewisse Dinge anders einordnen und wahrnehmen als ihre Schulkolleg:innen. Dass sie keinesfalls „einfach ein bisschen merkwürdig“ sind. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass an ihnen nichts falsch ist. Nur anders. Und das ist voll okay. Dass dies dann auch Konsequenzen für den Schulunterricht haben sollte, ist ein nächster Schritt. Inspirationen dazu gibt es u.a. in folgenden Blogartikeln:
- Was ist eigentlich das Drehtürmodell?
- Anreicherung des Unterrichts
- Musizieren als Fördermassnahme für begabte Kinder
- In 4 Schritten zum Compacting
- Schreiben mit begabten Kindern