Letztlich ist mir wieder einmal ein Buch des dänischen Pädagogen Jesper Juul in die Hände gekommen. Der Mann beeindruckte mich schon vor vielen Jahren und wenn ich heute seine Bücher lese, merke ich, dass sie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst haben. Unter anderem spricht er da auch vom „autonomen Kind“. Wenn ich seine Beschreibungen so durchlese, stelle ich fest, dass sie zu einem ganz grossen Teil auf die meisten hochbegabten Kinder, die ich kenne, zutreffen .. Was heisst jetzt das also? Sind alle autonomen Kinder hochbegabt? Oder sind im Umkehrschluss alle hochbegabten Kinder autonom?
Schauen wir uns doch diese Sache einmal ein bisschen genauer an…
Autonome Kinder – ein Mode Begriff?
Was sind denn eigentlich autonome Kinder? Der dänische Familientherapeut Jesper Juul sagt, dass viele dieser Kinder quasi schon erwachsen auf die Welt gekommen sind.
In vielen Gesprächen mit Eltern hat er festgestellt, dass diese Kinder so klein sie auch auf der Welt waren, schon bereits Gesichter gehabt haben wie Erwachsene. Da war jedenfalls bei den meisten nichts von einem kleinen, kindlichen, ein bisschen verschrumpelten, zerfurchten Babygesicht vorhanden. Nein, da blickten ganz wache Augen schon sehr wissend in die Welt. Das ist natürlich bloss ein äusserliches Merkmal, ein Detail sozusagen. Aber erstaunlich ist es doch, dass viele Kinder, die Jesper Juul begleitet hat, diese Eigenheit aufweisen.
Hin und wieder, wenn ich daran denke, frage ich in Elterngesprächen nun dieses Merkmal ebenfalls ab. Manchmal stösst das auf Erstaunen und ein bisschen Kopfschütteln, aber erstaunlich oft berichten dann die Eltern, dass ihr Baby ebenso eines gewesen sei, das schon sehr bewusst in die Welt geschaut hat, kaum war es auf der Erde.
Herausforderung Kind
Es gibt Kinder, die sind einfach viel intensiver als andere. Es könnte der Verdacht aufkommen, das ist sich hier um ein autonomes Kind handelt. Ungefähr 15% der Kinder sind von Anfang an ganz autonom. Das ist der Begriff, den Juul geprägt hat. Es geht ihm eigentlich darum, dass diese Wesen einen ganz unabhängigen Charakter haben, einen Charakter, der im Alltag als „willensstark“ oder je nachdem auch „schwierig“, vielleicht sogar als „störend“ oder „renitent“ bezeichnet wird. Mag sein, dass diese Kinder auch Schwierigkeiten mit Autoritäten haben, weil sie eben Anweisungen und Befehle hinterfragen. Eigentlich ist das ja eine Eigenschaft die wir bei Erwachsenen, die etwas in der Welt verändern möchten, durchaus schätzen. Nur bei Kindern ist dies eben nicht so gefragt. Diese jungen Menschen sind aber durchaus in der Lage zu kooperieren und wie alle anderen auch, brauchen sie einen Kreis von Leuten um sich, die ihnen wohlgesonnen sind, die ihnen auch vermitteln, dass sie geliebt werden. Das trifft auf ganz viele Kinder, die ich begleite, zu. Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Willensstärke und Unkonventionalität… Lauter tolle Eigenschaften, die aber manchmal das Zusammenleben ein ziemlich erschweren.
Authentische Eltern
Im Umgang mit autonomen Kindern ist es, wie bei anderen Kindern wichtig, dass wir authentisch sind. Dass wir klare Ansagen machen. Und hier kommt vielleicht der Unterschied zu einem sogenannten pflegeleichten Kind: Klare Ansagen machen – und dann weggehen! Das Weggehen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind dir nachkommt, enorm. Denn es geht darum, dass wir dem Kind eine gewisse Entscheidungsfreiheit lassen. Dass wir ihm Freiräume geben, um selber zu entscheiden, wann eine Sache erledigt wird. Nicht dasssie erledigt wird, dazu haben wir als verantwortliche Bezugspersonen das Recht und manchmal auch die Pflicht. Aber es geht ums Wann. Dass das Kind Spiel- und Freiräume bekommt, dass es sich nicht gegängelt fühlt. Wichtig ist auch, dass wir nach Bedürfnissen fragen: Was brauchst du? Was willst du?
Das heisst aber keinesfalls, dass wir unsere Bedürfnisse verleugnen oder hintenanstellen. Wir kommunizieren ehrlich und werden mit dem Kind eine Lösung finden. Wenn man sie mit einbezieht, zeigen sich diese Kinder durchaus kooperativ und lösungsorientiert. Die Angst, dass wir so kleine verwöhnte Prinzesschen und Prinzen heranziehen, kann ich zerstreuen. Kleine Tyrannen entstehen aus der Unsicherheit der Eltern, die ihrem Nachwuchs keinen Wunsch abschlagen und ihnen quasi das Zepter in die Hand geben, weil sie auf keinen Fall etwas falsch machen wollen. Diese Verantwortung ist aber für Kinder definitiv eine Nummer zu gross, aber weil sie die geliebten Eltern nicht enttäuschen wollen, tun sie ihr Bestes- das dann in der Gesellschaft eben logischerweise nicht sehr ästimiert wird.
Die Wahl am Buffet
Jesper Juul schlägt auch vor, dass wir autonomen Kindern Wahlmöglichkeiten bieten. Er vergleicht es mit einem Restaurant. Viele Kinder mögen es, wenn ihnen etwas serviert wird, pfannenfertig auf dem Teller, schön angerichtet. Autonome Kinder mögen es, wenn wir ihnen Optionen, Wahlmöglichkeiten anbieten. Er vergleicht es mit einem Buffet. Ein Buffet, bei dem verschiedene Möglichkeiten, verschiedene Varianten, Abläufe, Materialien, Zeiten bereits angerichtet sind. Und an diesem Buffet dürfen wir die Kinder getrost allein lassen. Genauso wie im Restaurant die Öffnungszeiten vorgegeben sind, teilen wir dem Kind mit, bis wann eine Aufgabe erledigt sein muss. Wir bleiben auch nicht am Buffet neben dem Kind stehen- es weiss, wo es uns findet, wenn es Unterstützung braucht. Das reicht bei einem autonomen Kind völlig.
Wenn ich das so vergleiche, mit dem, was ich im Alltag mit meinen nun erwachsenen Söhnen kenne, aber auch im Unterricht mit hochbegabten Kindern erlebe, dann deckt sich das extrem. Ich finde da sehr viel kongruentes Verhalten zwischen autonomen und hochbegabten Kindern und das lässt mich irgendwie schon darüber nachdenken, ob hochbegabte Kinder immer oder zu einem hohen Prozentsatz dieses Autonomiebedürfnis, dieses Autonomiestreben verspüren. Jesper Juul empfiehlt auch, jegliche Pädagogik, die dem Kind vorschreibt, was es wann und wie zu tun hat, zu vermeiden.
Keine Machtkämpfe
Machtkämpfe mit autonomen Kindern sind zum vornherein zum Scheitern verurteilt. Wir Erwachsenen verlieren mit grösster Wahrscheinlichkeit , weil diese Kinder viel hartnäckiger ihre Bedürfnisse verteidigen als alle andere. Sie sind nicht nur ausdauernder, sondern auch die Art, wie sie es tun – die ist um Welten kreativer und erfinderischer als bei anderen Menschen. Da zeigt sich auch wieder, welche Ressourcen in diesen Kindern stecken. Und wenn ich nicht gerade in diesem Machtkampf verstrickt bin, dann kann ich mich auch darüber freuen, weil ich einfach weiss, diese Kinder finden Lösungen. Kommen auf Ideen, auf die andere gar nicht erst gekommen wären. Ich finde das ein wunderbares Geschenk!
Diese Kinder zu begleiten und mich über ihr Potential und ihren Reichtum an Kreativität und Originalität zu freuen, ist grossartig. Viele autonome Kinder mögen auch nur wenig Körperkontakt, wenn man den von ihnen einfordert. Das heisst nicht, dass sie ihn nicht brauchen! Auf keinen Fall, aber sie müssen die Chance haben, selbst zu bestimmen, wann sie kuscheln möchten, wann sie einen umarmen oder gar ein Küsschen geben möchten. Das ist auch ein Unterschied zu Kindern mit einer Asperger- oder Autismusspektrumstörung, die wirklich keinen Körperkontakt ertragen.
Autonom oder Hochbegabt oder Beides?
Wenn ich an meine jungen Klienten bei “begabt & glücklich” denke, kommen mir viele in den Sinn, die ein hohes Autonomiebedürfnis haben. Darum drehen sich viele meiner Beratungsgespräche mit den Eltern und Lehrpersonen nicht bloss um den IQ sondern auch ganz konkret darum, wie man mit diesen Kindern bestmöglich durchs Leben geht. Vor allem die Eltern wirken oft sehr entlastet, wenn sie realisieren, dass die oft unkonventionelle Art mit ihren Sprösslingen umzugehen, die sich im Alltag entwickelt hat, durchaus vertretbar ist, auch wenn die Schwiegermutter oder die Nachbarin finden, das gehe ja gar nicht und das Kind bräuchte nur mal klare Ansagen. Lehrpersonen sind generell eher ein bisschen zurückhaltend, wenn man ihnen empfiehlt, die Zügel ein bisschen zu lockern und dem Kind Vertrauen in eine freiere Zeiteinteilung zu schenken. Selbstredend kann nicht der ganze geregelte Schulbetrieb auf den Kopf gestellt werden. Aber aus meiner eigenen Unterrichtserfahrung als Klassenlehrerin und aus den Gesprächen mit meinen Teamkollginnen weiss ich, dass oft mehr möglich ist, als auf den ersten Blick scheint. So ist beispielsweise Curriculum Compacting für viele Kinder ein gangbarer Weg.
Ich hoffe sehr, dass mit dem Wandel in der Bildungslandschaft immer mehr Freiräume entstehen, in denen selbst bestimmtes Lernen möglich ist und eines Tages zur Selbstverständlichkeit wird!
Ich bin gerade zufällig auf diesen Beitrag gestoßen und bedanke mich erst mal für den guten Denkansatz!
Ich habe 2 Kinder, die Ältere ist 5, hochbegabt und in meinen Augen recht brav und unkompliziert. Die Kleinere ist jetzt 18 Monate alt und das definitive Gegenteil, egal auf welche Art man es angeht, sie „folgt“
einfach nicht.
Ich gehe davon aus, dass auch sie hochbegabt sein wird, weil beide Kinder der Beschreibung ins Juuls Büchern exakt entsprechen. Durch meine unkonventionelle Art, zu erziehen, hatte ich aber nie ein Problem damit, ich kenne die Bedürfnisse.
Leider haben wir hier nicht so eine gute Basis für Hochbegabte Kinder in der Schule, auch Montessorieinrichtungen gibt es nicht überall.
Im Allgemeinen kann ich die dem Artikel vorangestellte These aber ziemlich sicher bestätigen
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