Kürzlich durfte ich in einer kleineren Gemeinde eine Lehrerweiterbildung im Themenfeld Hochbegabung halten. Da ich in der Themenwahl frei war, entschied ich mich für das Thema „Kreativität“. Es liegt mir nah, weil ich als Dozentin am CAS für integrierte Begabungs- und Begabtenförderung auch genau dieses Modul vermittle und mich andererseits durchaus als kreativ bezeichnen würde. Zudem findest du auf meiner Website eine eigene Seite, die diesem Thema gewidmet ist. Du siehst, dieser Themenkreis fasziniert mich!
Vor einigen Monaten habe ich darüber gebloggt, was denn Hochbegabung und Kreativität miteinander zu tun haben. Das kannst du hier nachlesen. Hier gehen wir gemeinsam der Frage nach, ob hochbegabte Menschen auch per se kreativ sind.
Intelligenz und Kreativität
Bereits in der frühen Intelligenzforschung stellte sich die Frage, ob Intelligenz und Kreativität miteinander verbunden seien. Vielleicht bedingen sie sich sogar? Eventuell ist die Frage so ähnlich, wie jene von Huhn und Ei?
Divergentes Denken
Der Kreativitätsforscher J.P. Guilford erachtet Kreativität klar als Teil der Intelligenz. Für uns, als mit Kindern Arbeitenden, ist entscheidend, dass Guilford als Erster das divergente Denken als Facette der Intelligenz bezeichnete. Ihm verdanken wir auch Hinweise, wie dieses erfasst werden kann. Im Gegensatz zum konvergenten Denken, wo linear die einzig korrekte Lösung gefunden werden will, sucht man bei divergenten Ausgabestellungen möglichst viele und auch unkonventionelle Lösungen.
Kreativität ist mehr als divergentes Denken
Im (Schul-)Alltag haben wir die Möglichkeit, mit Fragestellungen, die auf viele Möglichkeiten abzielen, Kreativität zu fördern. Mit meinen Schüler:innen erarbeite ich auch immer ein Repertoire an Kreativitätstechniken, das bei gegebener Zeit unterstützend eingesetzt werden kann.
Guilfords Klassiker: «Nennen Sie möglichst viele Verwendungsmöglichkeiten für einen Ziegelstein!» ist ein perfektes Beispiel für Fragen, die auf divergentes Denken abzielen. Wie viele Einsatzmöglichkeiten kommen dir spontan in den Sinn? Fünf? Zehn? Zwanzig? Es gibt unzählige Möglichkeiten, wenn wir unserer Fantasie freien Lauf lassen!
Messbare Faktoren für Kreativitä sind dabei Originalität, Ideenflüssigkeit und Flexibilität. Denn schliesslich will die Wissenschaft Kreativität quantifizieren und messen, damit sie vergleichbar wird.
Kreativität braucht Vorwissen
Guilford entwarf ein Würfelmodell, das drei Ebenen zeigt: Inhalt, Operation und Produkt. Anhand dieses Modells würden sich 150 Aspekte von Intelligenz herausarbeiten lassen. In der Praxis interessiert mich dies allerdings wenig. Was ich aber spannend finde, ist herauszufinden, wo die Schüler und Schülerinnen (SuS) mit ihren Ideen anknüpfen. Wo stehen sie in ihrem kreativen Prozess? Howard Gardner sagt ja auch, dass jedes kreative Produkt in Beziehung zu einer Domäne, einem Fachgebiet stehen muss. Nur dann kann beurteilt werden, ob es effektiv kreativ ist.
Wenn wir also etwas Neues erschaffen, Kreativität kommt ja von „creare“ (kreieren), dann müssen wir ja eine Ahnung davon haben, was „neu“ wirklich ist. Da unterscheidet sich dann auch die grosse von der kleinen Intelligenz. Wenn wir also beispielsweise eine Osterdekoration gestalten, fällt das klar in die Kategorie der kleinen Intelligenz.
Unterschied zwischen Intelligenz und Kreativität
Den Unterschied zwischen Intelligenz und Kreativität beschreibt F. König 1986 in seinem Buch „Kreativitätsdiagnostik als Teil der Intelligenzdiagnostik“:
„Intelligenz ist logisches, schlussfolgerndes, bewertendes Denken, das eine richtige Aufgaben- und Problemlösung sucht (konvergentes Denken), während Kreativität flüssiges, flexibles, originelles Denken ist, das nach alternativen Aufgaben- und Problemlösungen sucht (divergentes Denken), wobei die Leistung nicht nur neu, sondern auch nützlich, problemangemessen und ästhetisch sein sollte.“
Finden wir kreative Lösungen für herausfordernde Fragestellungen, gelingt es uns, weit auseinanderliegende Aspekte zu miteinander zu verbinden. Diese Kombination nehmen wir dann als neuartig wahr. Allerdings ist Kreativität wie oben schon angetönt, keine fix messbare Leistungsfähigkeit. Es gibt verschiedene Kreativitätslevel, bei denen die Palette von witzigen Einfällen bis zu Einsteins Relativitätstheorie reicht.
Aus der Hirnforschung
In der neurobiologischen Forschung hat man herausgefunden, dass die Gehirne intelligenter Menschen schneller und effizienter arbeiten, als jene der durchschnittlich intelligenten. Sie weisen deshalb ein grundlegend höheres Potenzial für kreative Leistungen auf.
Schnelles Arbeitsgedächtnis
Untersucht man die Gehirnaktivität kreativer Menschen, stellt man fest, dass Intelligenz durch eine ressourcenschonende Arbeitsweise die Ideenbildung fördert. Dabei spielt insbesondere das Arbeitsgedächtnis eine wichtige Rolle, denn das Arbeitsgedächtnis intelligenter Menschen kann fünf bis neun Informationseinheiten gleichzeitig verarbeiten.
Intelligente Menschen speichern Informationseinheiten in sogenannten „Chunks“ (Bündel). Diese Fähigkeit ist vor allem bei der Verarbeitung grosser Informationsmengen von Vorteil, weil Menschen, die dies nicht können, für die gleiche Aufgabe mehr Gehirnareale benützen müssen. Dies verbraucht zusätzliche Energie, was wiederum die Entstehung und Gestaltung von Ideen einschränkt. Das heisst also, dass die Arbeitsgeschwindigkeit des Gehirns die kreative Leistung beeinflusst. Macht diese Tatsache hochbegabte Menschen kreativ?
Langsame Gehirnströme sind kreativitätsfördernd
Zwar sind für kreative Prozesse vergleichsweise langsame Gehirnrhythmen förderlich. Aber kreative Menschen denken nicht langsamer, sondern sie sind fähig, schnell zwischen niedriger und hoher Aktivität hin- und herzuschalten. Langsame Gehirnrhythmen entstehen beispielsweise beim Meditieren oder beim Tagträumen. Allerdings besitzen kreative Menschen die Möglichkeit, rasch von entspannten Phasen der Träumerei auf Momente der totalen, fokussierten Konzentration umzuschalten, in denen die Intelligenz gefragt ist.
Die Rolle des Schlafs
Schlafen verfestigt Erinnerungen, was wiederum das Gedächtnis stärkt. Allerdings finden dabei keine neuen Vernetzungen statt, was heisst, dass keine kreativen neuen Gedächtnisinhalte entstehen. Die kreative Verarbeitung von Informationen ist im Schlaf also nicht stärker als im Wachzustand. Und je komplexer eine Aufgabe ist, desto weniger spielt der Schlaf hinsichtlich der kreativen Verarbeitung von Informationen eine Rolle.
Inspiration und harte Arbeit – ein Widerspruch?
Häufig können Kreative nicht schlüssig feststellen, wie sie auf einen neuen oder innovativen Gedanken gekommen sind, sondern sie erwecken vielmehr den Eindruck, als sei ihnen die geniale Idee spontan gekommen. Doch meist stecken hinter einem vermeintlich spontanen Einfall viele Jahre harter und beharrlicher Arbeit, denn oft halten kreative Menschen lange Zeit beharrlich an ihrem Projekt fest, verfolgen über Jahre eine Vision und geben nicht auf, obwohl andere sie belächeln oder verspotten. Geistesblitze schlagen meist nicht am Schreibtisch, sondern beim Gassigehen mit dem Hund, im Tram oder schlicht unter der Dusche ein.
Monotonen Tätigkeiten wie Bügeln, Staubsaugen oder Fensterputzen, senken das Tempo der Gehirnströme. Zudem kann das Gehirn quasi nebenbei nach einer kreativen Lösung suchen. Viele kreativen Ergebnisse entstehen aber auch durch Zufall. Dieser lässt sich ja bekanntlich nur bedingt steuern. Aber es kann definitiv helfen, das Umfeld zu verändern, um auf neue Gedanken zu kommen.
In der Beschäftigung mit Kreativität, was ich ja auch als Dozentin mache, stelle ich immer wieder fest, dass das Zitat, das Thomas Alva Edison zugeschrieben wird, „Genie ist 1% Inspiration und 99% Transpiration“, sehr gut auch auf die Kreativität adaptiert werden kann. Kreativität besteht ebenfalls aus beidem, der Prozentsatz ist verhandelbar.
Schlüssig beantwort ist die Ausgangsfrage, ob hochbegabte Menschen kreativ sind, immer noch nicht. Allerdings zeigen Studien eine gewisse Korrelation bis zu einem IQ von etwa 120. Der aktuelle Stand des Irrtums 😉 ist, dass Intelligenz ein Faktor von mehreren ist, welche Kreativität beeinflussen.
Inspirierende, weiterführende Literatur dazu:
Stangl, W. (2023, 16. März). Intelligenz und Kreativität. [werner stangl]s test & experiment.
https://testexperiment.stangl-taller.at/testintelligenzkreativ.html