Sprachentwicklung

Sprache als Schlüssel zur Beziehung

Dieser Artikel basiert auf Textfragmenten, die ich bereits vor einigen Jahren verfasst habe. Er entstand im Rahmen der Blogparade von Heike Brandl in der The Content Society und zeigt die Schlüsselfunktion der Sprache in der Erziehung auf. Ich erweitere hier die Sprache als Komponente der Beziehung. Analog zu Heike Brandl gehe ich auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ein.

Sprache ist Zuwendung

Wir alle haben von den Experimenten gelesen, welche neugierige Herrscher wie Pharao Psammetich I. im 7. Jahrhundert v. Chr. und 1700 Jahre später der Stauferkönig Friedrich II. durchführen liessen: Nämlich Säuglinge ohne sprachliche Kommunikation grosszuziehen und zu schauen, welche Sprache sie reden würden. Wenn überhaupt. Es war nicht Grausamkeit sondern Froscherdrang, der zu so unmenschlichen Experimenten führte. Die Frage, ob es eine fixe Ursprache gäbe, die jeder Mensch spräche, wenn er von anderen abgeschnitten aufwüchse, trieb die Menschen um. Oder ist es unsere Umgebung, die uns unbeschriebene Blätter prägt? Jedenfalls verleiht seine persönliche Sprachentwicklung dem Menschen Identität.
Wenn ich heute manchmal junge Mütter sehe, die ihren Nachwuchs im Kinderwagen ausführen und dabei aufs Handy vor sich starren, sträuben sich mir die Nackenhaare.
Wie sollen diese Kleinkinder Beziehungen aufbauen, wenn der Blickkontakt nicht zustande kommen? Wie sollen sie Worte dafür finden, was sie wahrnehmen, wenn niemand zu ihnen spricht?

Wie Sprache entstand

Ganz einig sind sich die Sprachwissenschaftler ja nicht. Aber mittlerweile hat man den Konsens gefunden, dass Sprache aus Naturlauten entstand. Und so reden die meisten Eltern ja auch mit ihren Kindern. „Schau da, der Wau-wau!“ „Hast du das Miau gesehen?“

Ein kurzer Abriss über die Sprachentwicklung bei Kindern

Die untenstehende Übersicht bezieht sich auf den „Normalfall“ eines gesunden Kindes. Selbstverständlich gibt es immer Varianten, Verzögerungen aber auch Abkürzungen. Wichtig scheint mir, dass bei Unsicherheiten immer auch Fachleute, als erstes die Kinderärtz:innen, ins Boot geholt werden. Sie können entscheiden, ob die körperliche und geistige Entwicklung okay oder beeinträchtigt ist und ob es allenfalls flankierende Massenahmen braucht.

Von 0 bis 6 Monaten

Wir wissen heute, dass auch Babys sich bereits recht differenziert ausdrücken können. Wenn Eltern darauf eingehen (vgl. Dunstan-Babysprache), verfeinern sie ihre Art der Kommunikation sogar noch. Darum ist es okay, wenn auch Eltern sich auf kindliches Gebrabbel einlassen und auch so antworten. Wichtig für das Baby ist es, in Resonanz zu treten und Antwort zu bekommen.
Trotzdem ist es wichtig, dass Bezugspersonen möglichst oft auch „normal“ mit dem jungen Mensch reden, damit er aus der Melodie und dem Klang der Stimme erste Interpretationsversuche unternehmen kann. Bereits im jungen Alter von 3 – 6 Monaten kann man auch mit Liedchen und Fingerversen das Interesse an Sprache wecken.

6-10 Monate

Gesunde Kinder beginnen in diesem Alter auch ganze Silben und Silbenverdopplungen wie etwa „bababa“ und „mumumu“ zu lallen. Sie freuen sich über „Brabbel-Gespräche“ mit ihrer Familie und üben sich im Nachahmen der Lautäusserungen, was wichtig für die weitere Sprachentwicklung ist. Nun beginnt sich auch das Sprachverständnis zu entwickeln: Das Baby versteht bereits Namen von Alltagsgegenständen („Ball“, „Löffel“) und vertrauten Personen. Es versteht auch kleine Fragen mit diesen Wörtern, wie z.B. „Wo ist Papa?“ und wendet sich dorthin oder zeigt darauf.

10-12 Monate

Aus den intensiven Lautspielereien des Kindes werden jetzt regelrechte Lallmonologe wie z.B. „babaaa-lala-grrrrr-oppo-guguu“. Die Bezugspersonen warten in diese Zeit auf das berühmte erste Wort, nämlich „Mama“ oder „Papa“ und reagieren entsprechend begeistert, wenn sie es herauszuhören („mamamama“). Zwar weiss das Kind meist noch nicht, was es da eben gesagt hat. Aber im Laufe der Zeit erkennt es dank der begeisterten Reaktion seines Umfelds den Zusammenhang zwischen seinem Lallen und der glücklich strahlenden Mama. In diesem wichtigen Augenblick lernt das Kind, Lautäusserungen bestimmte Bedeutungen zu geben, die dann etwas Positives in seiner Umgebung bewirken. Damit ist das Ende der vorsprachlichen Entwicklung erreicht!

Es ist enorm wichtig, die eigene Freude zu zeigen, wenn das Baby Laute produziert, die wie Worte klingen. Wird das Gesagte wiederholt, das Baby gelobt und Freude geäussert, wird das Kind die Laute immer wieder sagen, um die Begeisterung seiner Bezugspersonen zu hervorzurufen. Auf diese Weise wird es in nächster Zeit viele Wörter lernen.

Reflektierende Sprache

Viele von euch haben schon über gewaltfreie Kommunikation gelesen oder davon gehört. Dieser Ansatz gefällt mir sehr und ich bin überzeugt, dass sich die Welt verändern würde, wenn die Menschen wertschätzender miteinander kommunizieren würden.
Aber schon im behütenden Umfeld der Familie können wir damit anfangen, achtsam mit unserer Sprache umzugehen – vor allem auch gegenüber den Kindern.

Beziehungssensibilität

Beziehungssensibilität wird durch die Qualität der Beziehung zwischen Kind und seinen Bezugspersonen definiert. Wertschätzend auftretende Pädagog:innen und Eltern lösen beim Kind ein Gefühl des „Angenommenseins“ aus und es kann sich so auf neue Entwicklungsprozesse und tiefere Beziehungen einlassen. So entstehen günstige Voraussetzungen für erfolgreiche (Sprach-)Lernprozesse. Denn Sprache lernen Kinder immer in sozio-emotionalen Zusammenhängen, also in Situationen mit anderen Menschen und im Zusammenhang mit Handlungen. Unsere Sprache entsteht nämlich nicht „einfach so“, sondern sie ist ein Ergebnis mentaler Prozesse und sozialer Kommunikation.

Sozialkompetenz entsteht durch die gesprochene Sprache

Sprachentwicklung im sozial-emotionalen Handlungskontext zeigt sich beispielsweise dann, wenn Kinder sich in andere hineinversetzen zu können. Eine Studie von Farrant, Maybery & Fletcher (2012) zeigt, dass diese Fähigkeit davon abhängt, wie Mütter mit ihren Kindern Gespräche führen. Werden Gefühle und Gedanken thematisiert – auch jene von anderen Menschen – lernt das Kind leichter, sich in andere hineinzuversetzen. Es kann besser die Perspektiven seiner Mitmenschen einnehmen und ihr Verhalten vorausahnen.
Kinder, die an einer Sprachstörung litten, waren gemäss der Studie trotz der Unterstützung ihrer Mütter nicht so gut in der Lage, den Perspektivenwechsel zu vollziehen. Daraus können wir folgern, dass Sprache es erleichtert, Sensibilität für das Denken anderer zu entwickeln. Durch die Kommunikation in Beziehungen mit anderen lernen Kinder, dass es verschiedene Sichtweisen gibt. Die Sprache macht die eigene mentale Welt sichtbar und dient als Schlüssel oder Zugang zur mentalen Welt anderer. So ermöglicht sie damit Empathie.

Sprachentwicklung bei hochbegabten Kindern

Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass früher Spracherwerb ein Zeichen von Hochbegabung ist, ist dies absolut nicht zwingend. Ich kenne viele hochbegabte Kinder, sogar solche, die als Schüler:innen in der Indizes „Sprachverständnis“ sehr hoch getestet haben, die spät gesprochen haben. Diese sogenannten „Late Talkers“ hören oft erst einmal zu und legen dann, wenn sie die Wörter „eingesammelt haben“ los. Dann aber richtig.
Viele dieser Spätsprecher entwickeln als Ersatz fürs Sprechen eine Kommunikationsform über Gebärden oder Melodien – Kinder sind ja oft sehr kreativ.

Begabungsentfaltung durch Sprachentwicklung

Sprachentwicklung kann als Prozess der Begabungsentfaltung verstanden
werden. Deshalb können auch die Erkenntnisse der Begabungsförderung auf die Sprachentwicklung übertragen werden. Und darum können auch Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung nebst der klassischen Sprachdiagnose mit den Ideen der Begabungsförderung betrachtet werden. So verschiebt sich der Fokus von der sprachanalytischen Ebene hin zur gesamthaften Bedeutung der Sprache. Zudem gerät auch die Selbstkompetenz, die für Potenzial- und Sprachentwicklung von grosser Wichtigkeit ist, ins Blickfeld. Selbstkompetenz steuert Emotionen und Motivation.
Aus der Forschung wissen wir, dass eine der grössten Motivationen des Menschen ist, „dazuzugehören“. Wer sich artikulieren kann, hat eine grosse Chance, dieses Ziel zu erreichen. Selbstkompetenzen entwickeln sich wechselseitig in guten Beziehungen und in Umwelten, die einen weiten Kontext berücksichtigen.

Jampert (2010) spricht von „der Nabelschnur sozialer Beziehungen“, an welcher der sprachliche Fortschritt hänge. In der Begabungsförderung läuft das ähnlich. Damit Begabungs- und Sprachförderung gelingen können, braucht es zwei Andockstellen:
1.) eine durchdachte Gestaltung der Lernumgebung und
2.) Selbstkompetenz für gelingende Beziehungsgestaltung.


Abschliessend möchte ich erwähnen, dass es für eine ganzheitliche Sprach- und Begabungsentfaltung wichtig ist, die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu berücksichtigen, damit es spürt, dass es die schöne Erfahrung macht:

„[…] gefragt zu sein als Persönlichkeit, die etwas zu sagen hat.“

(Jampert, 2010)

Zitierte Literatur:

Farrant, B., Maybery, M., Fletcher J. (2012): Language, Cognitive Flexibility, and Explicit False Belief Understanding: Longitudinal Analysis in Typical Development and Specific Language Impairment. Child Development, 83, 1, S. 223–235

Jampert, K. (2010). Kinder eignen sich Sprache mit allen Sinnen an. Interview vom 15.03.2010. Online-Abruf am 06.08.2013 unter: https://www.bibernetz.de/wws/blickpunkt-sprachfoerderung-jampert.php?sid=72621835706174773837577117713830


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