Vielleicht klingt die Frage in deinen Ohren ein bisschen provokativ. Das ist nur am Rand meine Absicht, denn – um es vorwegzunehmen – ich finde Kindergärten eine wunderbare Institution. Ich habe grössten Respekt vor der Arbeit dieser Lehrpersonen: Sie erhalten noch, ein bisschen salopp gesagt, „Kraut und Rüben“. Quasi aller Kinder eines Jahrgangs besuchen den Kindergarten, ohne dass irgendwelche Abklärungen und sonderpädagogische Massnahmen getroffen werden. Erst die genauen Beobachtungen der dortigen Lehrpersonen leiten diese ein.
Genaues Beobachten
Vor einigen Jahren wurde mir eine Erstklässlerin vorgestellt, die eine perfekte Orthografie und ein Zahlenverständnis von ca. einem 9-Jährigen aufwies. Das Mädchen wurde kommentarlos, ohne einen Hinweis auf ihr grosses Vorwissen eingeschult. Bei allem Verständnis für die grosse Homogenität der Kindergruppen: So etwas sollte einfach nicht passieren. Einer Kindergartenlehrperson muss doch so etwas auffallen! Natürlich gibt es Kinder (vorwiegend Mädchen), die ihr grosses Können verstecken, weil sie nicht aus der Gruppe fallen wollen. Aber während eines Kindergartenjahres gibt es doch unzählige Chancen, bei deinen eine Lehrperson, entdecken kann, welch Können ein Kind verbirgt!
Sensibilisierung
Ich erachte es als unumgänglich, dass die verantwortlichen Behörden und Schulleitungen dafür sorgen, dass nicht nur Primarschullehrpersonen, sondern auch die Kolleg:innen des Kindergartens für die Thematik sensibilisiert werden. Und es gibt sie, diese wunderbaren Kindergärtner:innen, die das hohe Potenzial entdecken und für ausreichende kognitive Förderung besorgt sind! Und manchmal gilt es auf diesem Weg auch die immense Diskrepanz zwischen Kognition und Emotion auszuhalten, wenn sich herausstellt, dass der kleine Wurzelzieher eben noch wenig Empathie für seine „Gspänli“ aufbringen kann.
Kindergarten legt die Basis
In seinem Buch „Lifelong Kindergarten“ schreibt der Lernexperte und Scratch-Erfinder Mitchel Resnick, dass die heutigen Kindergenerationen mehr mit „Rechen-Übungen und phonetischen Lernkarten als mit Bauklötzen und Fingerfarben“ beschäftigt seien. Ich habe in diesem Buch etwas gefunden, was ich immer gespürt, aber nie so verbalisiert hätte: Eigentlich sollte die ganze Schulzeit – besser noch der Rest des Lebens – so gestaltet sein, wie ein Kindergarten: Fröhlich, kreativ, explorativ und ohne Versagensängste.
Was macht den Kindergarten für Hochbegabte besonders?
Ich wehre mich vehement dagegen, den Kindergarten zu „verschulen“! Natürlich sollten weiterführende Angebote vorhanden sein, damit interessierte Kinder auf ihre Rechnung kommen können. Aber es scheint mir wichtig, dass dieses Angebote nicht nur aus Arbeitsblättern bestehen! Es gibt viele explorative Möglichkeiten, die anregend sind und zum Denken einladen. Junge Kinder sollen immer die Gelegenheit für aktives Tun bekommen!
Und das finde ich grossartig an Kindergärten: In der Regel gibt es dort so viele Materialien, die zu entdeckendem Lernen auffordern und zum Handeln inspirieren.
Ich finde es bedauerlich, dass die Tendenz besteht, hochbegabte Kinder auf direktem Weg in die Schule zu schicken! Natürlich kann man die Kindergartenzeit abkürzen oder noch besser: anreichern. Aber gänzlich streichen würde ich sie auf gar keinen Fall!
Zukunftswerkstatt Kindergarten
Die Dinge, die im Kindergarten vermittelt werden, bilden eine gute Basis für das, was die Erwachsenen von morgen können sollten. Menschen jeglicher Altersstufen müssen heute schon in verschiedensten Bereichen beweisen, dass sie kreativ denken und handeln können, um in Alltag und Beruf Erfolg zu haben. Dies wird sich in Zukunft noch ungleich mehr zuspritzen. Um in dieser Lebenswelt bestehen zu können, ist es wichtig, sich Situationen auszumalen, neue Settings zu kreieren, spielerisch damit umzugehen, Wissen und Material zu teilen und sein Handeln zu reflektieren. Alles Dinge, die im Kindergarten gelehrt und gelernt werden. Egal, wie neu die Schule gedacht wird – der Kindergarten muss bleiben und mit seinen Kernkompetenzen vielleicht sogar noch mehr Raum einnehmen.