Zwischen Noten und Übertritt

Am Donnerstag 6.5.2021 strahlte das Schweizer Fernsehen eine DOK-Sendung zum Thema Noten und Übertritt aus, das ziemliche Diskussionen ausgelöst hat.
Wen es interessiert: Die Sendung kann hier nachgeschaut werden.

Portraitiert wurden vier Kinder von Beginn der 5. Klasse bis zum Übertrittsentscheid nach dem ersten Semester der 6. Klasse aus dem Kanton Luzern, also einer Gemeinde gleich bei mir um die Ecke.

Ich schaute mir den Film zeitgleich mit einer Arbeitskollegin an, die seit vielen Jahren eben diese Stufe unterrichtete und wir tauschten uns laufend via WhatsApp darüber aus, was wir sahen. Bereits im Vorfeld hatte mich eine gute Freundin, die den DOK-Film als Vorausstrahlung gesehen hatte, kontaktiert. Sie ist ein wenig älter als ich ist und hat bereits Grosskinder, die nächstens eingeschult werden. Sie war schockiert. Sie fand es “Horror- das ist ja wie in meiner Schulzeit”. Die Ausgangslage war also spannend.

Ist Schule so?

Ich muss dazu sagen, dass ich seit 25 Jahren nicht mehr Klassenlehrerin bin und wohl in einer BBF- Blase leben. In meiner beruflichen Tätigkeit gebe ich mündliche Rückmeldungen, orientiere mich an Kompetenzrastern und bin sehr glücklich, dass ich mit Noten nichts zu tun haben muss. Übrigens schätzen das auch meine Schüler*innen in den Pullouts sehr, dass sie in diesen Stunden einfach aus Freude und Interesse am Wissenszuwachs und Tun lernen, forschen und gestalten dürfen.
Irgendeinmal schrieb ich meiner Kollegin ein bisschen ratlos: „Ist Schule so?“ Als Antwort kam ein schulterzuckendes Emoji und der Satz: “ Ich hoffe nicht“. Es findet schlicht zu wenig kollegiale Intervision statt um das schlüssig beantworten zu können. Aber gewisse Sätze der Lehrpersonen haben mich sehr schockiert, Aussagen von Eltern machen mir immer noch Bauchweh und den Schülern möchte ich einfach Mut machen.

Persönlicher Rückblick

Die Frage, ob es Noten braucht, stellt sich schon lange und immer wieder. Ich selber hatte das Glück, in der 5./6. Klasse einen Lehrer zu haben, der sich bereits damals, vor mehr als 40 Jahren, schon solche Fragen gestellt hat. Mit uns Kindern hat er oft darüber diskutiert, uns auch erzählt, wie sehr er hadere, schlechte Noten zu verteilen, gerade wenn er wissen, dass Kinder für eine Prüfung – ja, damals brauchte man dieses Wort noch, heute sind es ja Tests oder Lernstandskontrollen- viel gelernt hätten und dann ihr Wissen doch nicht zeigen konnten. Er lud Klassen aus der Lehrer*innen -Ausbildung ein, liess sie mit uns sprechen und tat viel, damit die neue Generation der Lehrenden sich kritisch mit der Notengebung auseinandersetzen konnte. Er gründete mit Gleichgesinnten den Verein SONO, Schule Ohne Not(en). Ich selber bin in seine Fusstapfen getreten, als ich als Junglehrerin ziemlich eigenmächtig in das Projekt GBF (Ganzheitlich beurteilen und fördern) eingestiegen bin. Das Okay des Inspektors hatte ich erst, als der Ausbildungslehrgang schon begonnen hatte.

Mogelpackung

Es ist so, ich bin ein Zugpferd, das Pionierarbeit mag, auch wenn man sich damit nicht nur Freunde macht. Es gab Zeiten, so in den 1990er Jahren, da waren bei uns in Rothenburg die erste vier Schuljahre für alle Kinder notenfrei. Bedingt durch geänderte kantonale Vorgaben sind es heute immerhin noch die ersten zwei Schuljahre.

Wobei- seien wir ehrlich: Ampelsysteme, Smileys, normierte Wortrückmeldungen… Sind sie nicht Mogelpackungen, welche die Lernenden sehr gut auch vergleichen und einordnen können? Die meisten Kinder kommen aus Freude am Lernen, aus Neugier gekoppelt mit dem Gefühl, jetzt endlich zu den Grossen zu gehören in die Schule. Und natürlich wissen die meisten von ihnen auch, dass da Tests und Bewertungen dazugehören. Aber im kindlichen Optimismus und Selbstverständnis sind da die meisten sehr zuversichtlich, haben ein positives Selbstbild. Wäre es nicht die Aufgabe der Schule als Ganzes, aber auch der Lehrerpersonen, diesen gesetzten Segeln den nötigen Aufwind und Schub zu geben? Dass die Freude an der eigenen Leistung eben nicht zum Leistungsdruck, der am Schluss an allen Ecken und Enden drückt, wird?

Rückmeldekultur

«Beurteilen ist Teil der Aufgabe der Lehrperson». Man mag mir die Pingeligkeit verzeihen, aber im Beurteilen steckt immer schon das Wort Urteil, und wer bin ich, dass ich urteilen darf? Was weiss ich, wieso das ein Kind schneller lernt als das andere? Warum Kevin schon fast fehlerfrei schreibt, während Sandra noch alle Buchstaben verdreht? Ich mag es, Kinder in ihrem Lernen zu begleiten. Dingen auf den Grund zu gehen, sei das nun inhaltlicher Art oder aus dem pädagogischen Setting zu überlegen, warum das Lernen nicht so vonstatten geht, wie wir uns das vorgestellt haben. Grundsätzlich dürfen wir davon ausgehen, dass Kinder lernen wollen. Ich kann es nicht genug betonen: Der Mensch ist ein lernendes Wesen, wir sind so angelegt, es sichert unser Überleben. Und überhaupt haben die Kinder, bevor sie ins System Schule kamen, schon sehr viel gelernt. Auch ohne uns pädagogische Fachkräfte.

Kinder brauchen Rückmeldungen, an denen sie sich orientieren und weiterentwickeln können. Schüler*innen (SuS) geben sich auch selber Rückmeldungen, das ist natürlich, weil sich die meisten von uns automatisch immer mit anderen vergleichen. Aber dieses Feedback muss im Lernen eingebettet sein. Diese Rückmeldungen während des Lernprozesses sollten situativ und möglichst unmittelbar stattfinden. Selbstverständlich weiss ich, dass man sich als Lehrperson nicht aufteilen kann. Aber wenn ich sehe, dass Lehrpersonen während stillen Übungsphasen am ihrem Pult sitzen und korrigieren, finde ich es schade um die verpasste Möglichkeit, den SuS über die Schultern zu gucken und zu sehen, wie sie denken.

Im Zyklus 1, so nennen sich seit dem Inkrafttreten des Lehrplan21 (LP21) die zwei Jahre Kindergarten und 1./2. Klasse werden die meisten Kinder auf das Ampelsystem als Rückmeldeinstrument eingefuchst. Natürlich gestehe ich meinen Kolleginnen zu, dass sie es nur gut machen wollen… und ich weiss auch, dass einige sich wirklich auch so organisieren, dass bei Testrückgaben Zeit für individuelle Rückmeldungen bleiben. Aber das sollte meiner Meinung nach häufiger während des Unterrichts, während der eigentlichen Lernphasen passieren.
Dazu bekommt mir ein Erlebnis mit unserem Schulpsychologen an der Schule in den Sinn: Unser Sohn hatte da einen Termin, weil er neben sehr hohem Potenzial eine LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche) hatte und die Lehrerin mit dieser «doppelten Ausnahme» nicht klar kam. Als Beweis für J.s generelles Nicht-Können zog sie Matheprüfungen, in den unser Sohn nicht gerade brilliert hatte, aus ihrer grossen Lehrerinnnentasche hervor. Wie hätte er auch? Die Aufgaben waren halbe Kurzgeschichten… Nun ja, der Schulpsychologe hat hervorragend reagiert und zur Lehrerin gesagt: «Hast du das Wort Lernstandsanalyse schon mal analysiert? Es geht darum herauszufinden, was J. kann und wo es noch hapert. Das allein rechtfertigt die Durchführung eines normierten Tests. Dass du nachher deine Lerninputs und deinen Unterricht darauf abstimmen kannst.» Wow, ich war platt! Solche Worte hätte ich von diesem Mann nicht erwartet. Vor fast 15 Jahren waren solche Aussagen noch extrem provokativ und rebellisch. Aber er hat recht. Die einzige Rechtfertigung für eine zeitgleiche Wissensabfrage aller SuS besteht darin, dass ich als Lehrperson evaluiere, was ich am pädagogischen Setting optimieren kann. Hier wiederum ist auch das Mindset der Lehrperson gefragt: Sehe ich den Weg, den Prozess oder sehe ich nur das Ergebnis, dass das Kind auf Befehl wiedergibt?

Braucht es Noten?

Überhaupt soll auch die Frage, wo es überhaupt Noten braucht, immer wieder gestellt werden! Im Zeugnis, ja, wenn es denn so verordnet ist… aber während des Semesters nicht unbedingt. Da würden wohl differenzierte Rückmeldungen reichen. Ja, ich weiss, da kommt das Argument, dass die Eltern wissen wollen, wo das Kind steht und was es kann. Das heisst ja nicht, dass die Eltern keine Einsicht in die Arbeiten der Kinder haben dürfen. Übrigens, als Randbemerkung: In unserem Nachbarkanton wurde gerade letztens der Entscheid von oben gefällt, dass auch Zyklus1- Kinder alle Lernstandsanalysen unmittelbar nach der Rückgabe nach Hause gegeben werden müssten. Die Einsichtnahmen in periodischen Abständen reiche nicht…

Zurück zu den Zeugnisnoten: Wie entsteht denn eigentlich so eine Note? Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Lehrerpersonen die Arbeiten von Lernenden trotz identischer Ergebnisse unterschiedlich bewerten – abhängig zum Beispiel von der Herkunft der Kinder oder der persönlichen Tagesform.
Das Problem ist doch, dass das arithmetische Mittel die Entwicklung, die ein Kind während des Lernprozesses gemacht hat, diese nie und nimmer abbildet. Hier bräuchte es den Mut für professionelle Ermessensentscheide der Lehrpersonen: Gewichtung der einzelnen Prüfungen, Einfliessenlassen der Lernprozesse und Beachtung der ganzen Entwicklungsperiode. Diese Spielräume bestünden, werden aber leider aus Angst vor den Erziehungsberechtigten kaum wahrgenommen. Wie auch, wenn schon mit dem Anwalt gedroht wird, bevor die Übertrittsfrage im Raum steht? Ich verstehe da meine Kolleg*innen und das Dilemma, in dem manche stecken, schon auch. Beurteilung löst auch Ängste bei ihnen aus.

Solange Selektion besteht, lässt sich das Dilemma zwischen Förderung und Noten nicht auflösen Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass gute Rückmeldeinstrumente Noten ersetzen könnten, ohne dass ungenügende Noten verteilt werden. Jede*r von uns weiss, dass diese erfolgreiches Lernen blockieren. Dazu kommt, dass Aussagen, wie «Alle sagen, ich sei ein B- Kind» (damit spielt Sven zu Beginn des Filmes darauf an, dass er aufgrund seiner Noten ins mittlere der drei Oberstufenmodelle gehören sollte) prägend für das Selbstbild eines Kindes sind. Wir Eltern und Lehrpersonen sollten uns bewusst sein, was wir mit unseren Aussagen anrichten. Je nachdem setzen wir mit unseren Bemerkungen die Grundlagen für langwierige Coaching- und Psychotherapiesitzungen im Erwachsenenalter.
Definitiv braucht es alternative Beurteilungsinstrumente wie Kompetenzraster, Lerntagebücher, dialogisches Lernen etc. Codierte Bewertungen wie Ampeln, Smileys oder Kreuzchen sind das Gleiche wie Noten und machen die Sache nicht besser.

Förderorientierte Beurteilung

Eine förderorientierte Beurteilung muss nicht «gerecht» sein, sondern individuell und persönlich. Dann können sich die Überflieger und der Lernbehinderten «abgeholt» fühlen und sich auf ihrem Niveau entfalten. Wir sollten definitiv von dieser Allmachtsfantasie, dass wir in der Lage seien, fair zu beurteilen, wegkommen. Sich dies vor Augen zu halten, würde schon gewaltig entlasten. Gleiche Leistung wird nun mal einfach unterschiedlich beurteilt, das habe ich weiter oben schon erwähnt. Mag in naturwissenschaftlichen Fächern 1+1 immer 2 ergeben, sieht das bei der Interpretation des «Zauberlehrlings» schon anders aus.
Es sollte langsam in die Köpfe der Bildungsverantwortlichen, dass es eine Illusion ist, durch stundenlange Buchführung, welches Kind wo genau steht, eine gerechten Beurteilung zu erreichen. Würde man diese“Büro- Zeit“ wegfallen, bliebe plötzliche viel mehr Zeit für individuelle Rückmeldungen, Gespräche oder dialogische Einträge im Lernheft übrig.
🅻🅴🆁🅽🅴🅽 🅼🆄🆂🆂 🆂🅸🅲🅷🆃🅱🅰🆁 🆂🅴🅸🅽.
Transparenz im Lernen und prozessorientierte Begutachtungskriterien ebenfalls.

Hier muss der Pradigmenwechsel zu einer förderorientierten Einschätzung mit Ermessensspielraum zugunsten der SuS endlich stattfinden-  so wie sich das mein Lehrer schon vor 40 Jahren überlegt hat.
Das bedingt auch, dass Eltern Vertrauen in die Schule haben müssen – und umgekehrt. Wie weit soll der partizipative Rahmen in der Beurteilung geöffnet werden? Elternarbeit im Dialog hiesse da das Stichwort.

Eine computerbasierte Leistungserfassung, Lernstandsdiagnostik und adaptive Lernsysteme, wie sie die Technische Hochschule in Karlsruhe entwickeln will, kann und will ich mir allerdings nicht wirklich vorstellen. Via Smart Watch und Computer werden dabei Augenbewegungen, Atemfrequenz und Hirnaktivität während des Lernens erfasst und so bietet so adaptive Lernwege angeboten. Wollen wir das? Lernen ist auch ein Beziehungssache, vielleicht sogar in erster Linie, und ich finde, dass dies auch so bleiben soll.

Visionen

Perspektivenänderungen tun gut!So könnten wir uns der Überlegung anschliessen, ob wir nicht vom Fächer-Denken statt von den Noten wegwollen. Beim Übertritt oder generell zählen nur die Kernfächer. Unsere Schule ist schlicht zu verkopft geworden! Kreatives, ganzheitlicheres Denken wäre mit dem LP21 möglich, aber es wird sehr selten umgesetzt. Diesen Mut zum Loslassen braucht es, wenn SuS den Weg bestimmten. Man müsste sie ziehen lassen- unsere Hoffnungsträger der Zukunft!

Ich kenne viele Lehrpersonen jeglicher Couleur mit pädagogischen Visionen. Aber sie bestimmen das Unterrichtsgeschehen nur bedingt. Ich wünschte mir auch mehr Mut bei den Schulleitungen! Viele verschanzen sich hinter infrastrukturellen und organisatorischen Fragen. Dabei sind sie die Verantwortungsträger des pädagogischen Schaffens. Sie haben die Kompetenz mit ihren Teams Spielräume auszuloten und Ziele zu erreichen. Ziele werden aber nur erreicht, wenn konsequent Zwischenziele eingefordert und Meilensteine gesetzt werden- das gilt im System Schulleitung- Lehrpersonenteam genauso wie im Klassenzimmer.

Es kommt etwas in Bewegung, ich bin zuversichtlich. Und der DOK Film hat sein Scherflein dazu beigetragen. Schule darf nicht in einer pädagogischen Blase bleiben, diese Blase muss und die herumspritzenden Tropfen müssen alle touchieren. Die Schule muss sich vernetzen und fühlen, was da draussen passiert und woher der Wind weht. Es ist wichtig, im Lokalgeschehen mitzudenken und mitzuwirken, sich einzubringen, präsent zu sein. Service-Learning heisst das Stichwort dazu.
Es muss unser Ziel sein, dass Lernende Schule als positive Lebenszeit ohne Angst vor herausfordernden Situationen und Beurteilungsberichten erleben können.

Auch wenn ich viel Kritik am Lehrplan 21 höre: Das dort niedergeschriebene Bildungsverständnis lässt eigentlich so viel Spielraum im Unterricht, dass mein Wunsch erfüllt werden könnte: Schule 21 macht glücklich!

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