Seit bald 20 Jahren begleite ich Familien, Schulen und natürlich hochbegabte Kinder. Und genau so lange klingen immer wieder diese Stereotypen in meinen Ohren: „So krakelig wie der Johannes schreibt, darf der sicher keine Zusatzaufgaben lösen. Der soll sich erstmal um eine schöne Schrift bemühen!“ Dieses Suchen nach Defiziten bei Hochbegabten ist etwas, was tief in der Gesellschaft und damit auch in der Bildungslandschaft verankert ist. Oder bei einer Kindergärtlerin: „Ich habe Maria nicht für den Entdeckerkurs angemeldet. Sie hat noch einige Defizite. Schuhe binden zum Beispiel.“ Wäre es nicht zum Schreien, könnte man lachen. Das sind bloss zwei Beispiele, die mir im letzten Jahr zu Ohren gekommen sind. Nicht an „meiner“ Schule, aber doch im gleichen Kanton. Und der hat Begabtenförderung und entsprechende Weiterbildungsangebote durchaus auf dem Radar.
Auch Hochbegabte dürfen Defizite haben!
Hochbegabte Kinder sind zu allererst einmal Kinder. Kinder, die mit einem hohen Potenzial ausgestattet worden sind. Ob sie es dann auch leben, steht auf einem anderen Blatt. Hochbegabt heisst nicht zwingend auch hochleistend. Und wer sich mal mit Eltern von hochbegabten Kindern unterhalten hat, weiss, dass es durchaus nicht immer nur Zuckerschlecken ist, ein wissbegieriges, forderndes Kind zu betreuen.
Genauso wenig wie ich es toll finde, dass Eltern auf dem Spielplatz damit prahlen, dass ihr Dreijähriger mit der Zahl Pi schon Kreisberechnungen anstellen kann, genauso geht es mir auf den Geist, wenn ich dann als Konter höre, es wäre doch wichtiger, dass Georg sein Pipi nun endlich auf dem Klo erledigen würde. Schliesslich sei Marlena schon mit einem Jahr trocken gewesen – ohne Hochbegabung.
Kinder mit hohem Potenzial zeichnen sich durch einen wachen Geist und meist auch sehr viel Kreativität aus – aber auch sie haben, wie wir alle, ihre Baustellen. Viele von ihnen sind zum Beispiel ungeduldig. Mit sich, weil sie hohe Ansprüche an sich stellen und sich selber nicht genügen. Mit anderen, weil sie noch nicht verstehen können, dass ihre gleichaltrigen Spielkameraden gewisse Dinge noch nicht so gut können wie sie. Beides kann dann schnell einmal in Wutanfälle oder Frusttränen münden.
Wieso sucht man bei Hochbegabten nach Defiziten?
Meiner Erfahrung nach spielen da zwei Faktoren eine ganz grosse Rolle: Neid und Angst.
Wer möchte als Eltern nicht auch die allerbeste Ausgangslage für seine Sprösslinge? Wohl jeder. Und getreu dem Motto, dass es „mein Kind mal besser haben soll, als ich es hatte“, wird versucht, das Kind ins höchste Leistungsniveau und bestimmt ins Gymnasium zu pushen. Dass nicht jedes Kind hochbegabt ist, wie Gerald Hüthers Buch im Titel behauptet, ist nun mal eine Tatsache. Eine Tatsache ist es aber auch, dass ein IQ von 115-120 optimal für eine Hochschulkarriere ist. Dort kann man dann immer noch mit einer gewissen Schadenfreude mit dem Finger auf den Kommilitonen zu zeigen, der zwar lauter Bestnoten aber keine Freundin hat. Weil, man weiss es ja, Hochbegabte sind eigenbrötlerisch und sozial defizitär…. Nein! Sind sie eben nicht. Es ist erwiesen, dass Hochbegabte oft sogar empathischer als „Durchschnittsmenschen“ sind. Aber für „Normalbegabte“ macht es das Leben leichter, wenn man sich wenigstens in einem Punkt „erhaben“ fühlen kann.
Nicht zuletzt bei Lehrpersonen drückt in Gesprächen sogar eine gewisse Angst vor hochbegabten Kindern durch. Wenn die blitzschnell mit Fakten und Zahlen, Sachwissen und Behauptungen auftrumpfen, können sich bereits Primaschullehrpersonen in die Ecke gedrängt fühlen. Da ist es dann einfach, mit einer Aussage wie: „Lern du erst mal still im Kreis zu sitzen“, dem Kind die Teilnahme am Förderkurs zu verwehren. Nicht dass das Kind noch schlauer werden könnte. Oder sein Selbstbewusst sein noch stärker. Gott bewahre!
Last but not least ist es zusätzlich noch eine Frage der Kultur: Während in den USA Menschen selbstbewusst behaupten: “ I do speak Italian, of course!“ auch wenn sich der Wortschatz auf die ersten zehn Zahlen, Pizza und Spaghetti beschränkt, trauen sich hierzulande Leute mit dem Cambridge First Certificate kaum spontan einen Satz auf Englisch zu sagen.
Es ist eine Tatsache, dass bei uns Kinder mit kognitiven Defiziten auf ein Mittelmass hinaufgedrückt werden und viele begabte Kinder regelmässig eins aufs Dach kriegen. Exemplarisch dazu, was ich vor Jahren auf einem Schulbesuch in einer 1. Klasse erlebt habe: 24 Schüler:innen, alle kriegen für eine Zeichnungsarbeit 4 Blätter. J. hebt die Hand und als er dran kommt, sagt er: „Auf der Papierpackung steht, dass 80 Blätter drin sind, da fehlen uns aber 16.“ Darauf die Lehrerin: „Das mag stimmen, interessiert hier aber keinen!“ Ich hätte schreien können!
Ausgleichende Gerechtigkeit
Der Mensch hofft auf Gerechtigkeit. Nicht erst im Jenseits sondern auch hier auf Erden. Wenn also ein Kind ganz viele Potenziale in die Waagschale werfen kann, dann muss doch auch irgendwo ein Ausgleich stattfinden! Bei Hochbegabten müssen doch auch Defizite vorhanden sein! Vor diesem Hintergrund suchen nicht zuletzt auch Eltern der Klassenkameraden des cleveren Kindes immer wieder Schwachstellen. Vielleicht um das Ego des eigenen Kindes aufzupolieren. Vielleicht aber tatsächlich auch aus Frust, weil ihr Kind sich für gute Leistungen sehr anstrengen muss. Dabei geht völlig vergessen, dass es für ein hochbegabte Kind eine wahnsinnige Leistung ist, sich Tag für Tag im Schulzimmer an das Klassenniveau anzupassen! Oder man hat überhaupt keine Ahnung davon, weil man gar nicht daran denkt… oder es sich schlicht und einfach nicht vorstellen kann.
Raus aus der Defizitorientierung – für alle!
Vielleicht fragst du dich, was diese Tirade denn nun soll. Ich bin nicht die, die Rundumschläge austeilt. Auch nicht die, die krass verallgemeinert. Differenzieren kann ich durchaus. Aber ich habe in letzter Zeit wieder so viele „Geschichten“ gehört, wie begabte Kinder, besonders auch schüchterne, zurückhaltende Mädchen, kleingehalten werden – nicht zuletzt auch von Lehrpersonen. Von Leuten also, denen man einen gewissen Begabungsblick zutrauen dürfte. Das macht mich im ersten Moment jeweils wütend und dann vor allem auch traurig. So viel Potenzial, dass da blockiert wird – zum Teil ein ganzes Leben lang. Dabei sind diese Fähigkeiten wohl die Schlüssel zu den Fragestellungen der Zukunft!
Ich wünschte mir, dass das Thema „Hochbegabung und Defizite“ wieder präsenter wäre. Und dass Lehrpersonen sich die Zeit nehmen würden, Klassenscreenings durchzuführen, wie sie im Buch Lichtblick für helle Köpfe von Joëlle Huser, bei Klaus Urban oder auf der Website der Begabungsförderung Schweiz erhältlich sind. Ich glaube, die Welt wäre ein friedlicher Ort, wenn wir alle einander wohlwollender gesinnt wären und uns gegenseitig an unsern Fähigkeiten freuen würden!