Vielleicht fragst du dich, wie wirkungsvoll meine Arbeit im Bereich Intelligenz-Testung denn überhaupt ist. Eventuell hast du ja ein Kind daheim, das im Herbst bereits nach wenigen Wochen nicht mehr zur Schule gehen will. Dann geht es euch ähnlich, wie Familie Z. (mit deren Erlaubnis ich diese selbstverständlich anonymisierten Texte verwende), die mich letzten Herbst übers Kontaktformular angeschrieben hat:
Kontaktaufnahme
„Wir denken, dass es sinnvoll ist, wenn wir unseren Sohn (3. Klasse) bezüglich IQ abklären lassen. Bereits in den ersten beiden Schuljahren bedurfte sein Verhalten immer wieder Eltern-Lehrer-Gespräche, wobei auch der Verdacht auf einen hohen IQ von der Heilpädagogin angesprochen und uns eine Testung vorgeschlagen wurde. Zu diesem Zeitpunkt haben wir uns aber dagegen entschieden, weil unser Sohn insgesamt gerne zur Schule ging. In der dritten Klasse (neue Lehrperson) fällt er nun damit auf, dass er ständig gedanklich abschweift und sich teilweise nicht sozialkonform verhält. Er selbst äussert, er denke lieber über spannendere Dinge nach, weil er sich im Unterricht langweile. Die Lehrperson geht von einer Wahrnehmungsstörung (?) als Ursache aus. Wir würden nun gerne wissen, ob Unterforderung der Grund für sein Verhalten sein könnte oder nicht.
Falls Sie eine Testung in diesem Fall als sinnvoll erachten, freue ich mich auf Ihr Feedback.“
Nicht immer ist eine Testung angezeigt und sinnvoll. Ich nahm also mit der Familie Kontakt auf und nach einem Telefongespräch entschieden wir uns, dass ich P.mit dem WISC-V testen würde. Vor der Testung schickte ich Familie Z. noch meinen Fragebogen, dessen Light-Version du dir kostenfrei downloaden kannst.
Wie eine Testung abläuft und über welche Punkte man sich besser vorgängig Gedanken machen sollte, habe ich hier beschrieben.
Testung und Ergebnisse
P.s Testung ergab einen Gesamt-IQ von 129 bei einem Vertrauensintervall von 122 – 133 Punkten, was einem Prozentrang von 97 entspricht. Das heisst, dass nur 3 Prozent aller gleichaltrigen Kinder höher als P. testen. Dass seine Verarbeitungsgeschwindigkeit verhältnismässig tief war, kann verschiedenen Gründen geschuldet sein (fehlende Motivation, Perfektionismus, Müdigkeit…) und gab uns nicht weiter Anlass zur Sorge. Von einer Wahrnehmungsstörung schien er jedenfalls meilenweit entfernt zu sein.
Das Gespräch mit den Eltern ergab, dass sie meinen Bericht im nächsten Gespräch, das bald stattfinden würde, den Lehrpersonen vorlegen würden und mit ihnen meine vorgeschlagenen Massnahmen prüfen würden.
Ein Auswertungsgespräch besteht bei mir nie nur nackte Zahlen! Immer fliessen auch die Beobachtungen aus meinem „Interview“ und dem gemeinsamen Spiel ein. Wir alle sind doch so viel mehr als Zahlen!
Rückfluss der Testung in die Schule
Leider zeigten sich die Lehrpersonen und auch die Schulleitung nicht wirklich kooperativ. Sie zeigten sich auch überhaupt nicht interessiert an einem Rundtischgespräch, an dem ich gerne teilgenommen hätte. Das ist etwas, was ich in der Schweiz doch eher selten erlebe. Im Allgemeinen sind Schulen um Support von aussen froh – vor allem, weil der finanzielle Abgleich von den Eltern übernommen wird und sie mein Know-how nicht selber einkaufen müssen.
Rückmeldung der Eltern
Mit den Eltern habe ich für diesen Fall weitere Massnahmen besprochen: Von der kurzfristigen Krankschreibung des Kindes (Kinderärzte sind, da es ums Kindswohl geht, meist unkompliziert – man muss sich bloss trauen, die Situation zu schildern!) bis zum Schulwechsel.
Einige Wochen später erreichte mich folgendes Mail der Mutter:
„Bei unserem letzten Gespräch haben wir Ihnen zugesichert, Sie auf dem Laufenden zu halten. Inzwischen hat sich einiges bei uns getan. Als wir P. über den geplanten Schulwechsel informiert haben, hat ihn diese angesprochene Veränderung nicht – wie von uns erwartet – in eine Krise gestürzt, sondern er hat sich bei uns ganz ruhig und reflektiert bedankt und die Entscheidung für richtig befunden.
Mit dem Wissen, dass er die Schule verlassen wird, hat er uns dann zudem das volle Ausmass seiner Mobbingsituation schildern können – er hat auch deswegen seit Monaten stark gelitten. Aber die Lehrerschaft hat das Mobbing nicht anerkennen wollen – es sei durch P. selbst verschuldet. Auch punkto Förderung ist die Schule weiterhin nicht von ihrem Standpunkt abgerückt (P. hat erst jetzt zu erzählen begonnen, dass der Klassenlehrer ihn nicht nur nicht gefördert, sondern über weite Strecken ignoriert hat).
Die Situation spitzte sich so zu, dass P. die Schule komplett verweigerte und sein Kinderarzt ihn – zum Glück- krankgeschrieben hat. P. war dann (modifiziert dm: in zwei Privatschulen) je eine Woche schnuppern. Nach den Schnupperwochen haben wir von verschiedenen Lehrpersonen ein schönes Feedback zu P. bekommen. Er wird als sehr reif, reflektiert und mit guter Selbsteinschätzung wahrgenommen. Er konnte sich lange konzentrieren und war beim Unterricht stets mit voller Aufmerksamkeit dabei. Sie haben ihn als sehr sozialkompetent erlebt. Er ist bereits jetzt gut in der Klasse integriert und hat schon Freundschaften geschlossen.
Er hätte in beiden Schulen starten können und wir haben uns für (mod. dm: XX) entschieden. P. beginnt dort bald und wir freuen uns alle sehr. Seine Demotivation, schlechte Stimmung und Frustration sind verschwunden. Er startet wieder mit Freude in den Tag und geht seinen Interessen nach. Gerade vertieft er sich in ein Schachstrategie-Buch und liest „Existenzgründung für Dummies“, weil er ein Start-Up gründen will 😉
Wir möchten Ihnen herzlich danken, dass Sie uns in dieser schwierigen Zeit unterstützt haben und uns mit Ihrer Testung „den Weg weisen“ konnten.“
Fazit
Man darf über Sinn und Unsinn von Testungen diskutieren. Aber manchmal ist diese Massnahme einfach hilfreich, um die eigenen Eindrücke zu verifizieren und ggf. uneinsichtigen Lehrpersonen die Augen zu öffnen.
Zum Glück ist die öffentliche Schule, die P. besucht hatte, in ihrer Uneinsichtigkeit eine Ausnahme. In meiner langjährigen Beratungspraxis sind über 90 % aller Kinder an ihrer Schule verblieben, weil durch Anpassungen ihren Bedürfnissen entsprochen werden konnte. Es gibt nämlich mehr Spielraum, als man gemeinhin denken würde 😉
Ich mache mich mit meinem Angebot, Eltern zu Rundtischgesprächen zu begleiten, nicht immer beliebt. Aber mir geht es erstens darum, dem Kind zu seinem Recht zu verhelfen (vgl. Kinderrechtskonvention) und andererseits auch Schulentwicklung voranzutreiben. Wir brauchen Schulen und Lehrpersonen, die alle Kinder in ihrem Tempo und ihrem Potenzial entsprechend fördern! Und dafür setze ich mich ein und aus!