Als ich ein Kind war, galt es als ungehörig, sich laut über die eigene Leistung zu freuen! Ein fehlerloses Diktat – ja, das gab es damals noch, wurde zwar in der Familie wohlwollend zur Kenntnis genommen, aber gleichzeitig kam auch der gutgemeinte Rat: „Aber häng es nicht an die grosse Glocke!“
Damals war (meine) Hochbegabung kein Thema, musste sie auch nicht sein. Meine Schullaufbahn verlief völlig unauffällig, auch wenn durchaus „mehr aus mir hätte werden können“. Aber es ist okay, wie es ist. Ich hadere nicht. Heute, wo wir in der pädagogischen Forschung weiter sind, wissen wir, dass Neurodivergenz normal ist und kein Aspekt davon, also auch Hochbegabung, ein Familiengeheimnis sein sollte. Das macht alles nur noch verflixter!
Hochbegabung in der Familie thematisieren?
Immer wieder werde ich von Eltern, deren Kind 130 und mehr IQ-Punkte erreicht, gefragt, ob und wie sie dieses Resultat dem Nachwuchs denn kommunizieren sollen.
Da habe ich in den letzten fast 30 Jahren, als es um meine Jungs ging, bis heute in der Beratungspraxis einen Wandel vollzogen. Habe ich damals das Wort „Hochbegabung“ im eigenen Familienkreis nur zögerlich gebraucht, empfehle ich heute den Eltern, mit den Kindern das Resultat zu besprechen. Denn die meisten Kinder nehmen sehr klar wahr, dass sie „irgendwie anders“ als ihre gleichaltrigen Kumpel sind. Entscheidend, wie kommuniziert wird, scheint mir der Leidensdruck des Kindes zu sein – es kann durchaus entlastend sein, zu wissen, warum man anders wahrnimmt und empfindet als andere.
Wenn im Zuge der Abklärung besondere Fördermassnahmen oder gar ein Schulwechsel zu, Thema werden, ist es wichtig, transparent zu informieren, damit sich das Kind nicht in eine Aussenseiterrolle gedrängt fühlt. Bekommt es gar den Eindruck, man wolle es abschieben, ist das für sein Selbstwertgefühl absolut schädlich.
Fachperson beiziehen?
Hin und wieder wird empfohlen, für ein Gespräch mit dem Kind eine erfahrene Fachperson hinzuzuziehen. Mein Ziel ist es, in der Besprechung nach der Testung die Eltern so weit zu befähigen, dass sie ihrem Kind die Ergebnisse erklären und ihm zeigen können, dass es in bestimmten Bereichen anders denkt und schneller auf Lösungen kommt als andere. Auch andere, spezifische Interessen können so begründet werden. Es ist mir wichtig, dass Eltern – und folglich auch ihr Kind – verstehen, dass Kognition nur ein Teilbereich des Lebens ist. Wir alle sind einzigartig und bringen durch unsere individuellen Fähigkeiten Farbe in diese Welt.
Mindset
Ich lege Wert daraus, dass Kinder durch sorgfältige und altersentsprechende Informationen gut mit ihrer Hochbegabung umgehen können. Leider kommt es immer wieder mal vor, dass sich Kinder durch ein unglückliches Präsentieren und Herumposaunen der eigenen Hochbegabung in ihrem Umfeld oder bei Kolleg:innen ins soziale Out katapultieren.
Sich mit dem eigenen Potenzial zu beschäftigen, kann herausfordernd sein. Und wie vieles hat auch dieser Prozess zwei Seiten: Unsichere Kinder fühlen sich entlastet und gewinnen Selbstvertrauen, wenn sie entdecken, dass weder Faulheit noch Dummheit sie auf dem Weg zum Erfolg hindern. Allerdings kann das Hervorheben von hohem Potenzial auch schief gehen. Ich kenne stolze Eltern, die jede sich bietende Gelegenheit ergreifen, um immer wieder einfliessen lassen, wie „besonders begabt“ oder „sehr klug ist“ ihr Kind ist. Dieses Verhalten führt dann oft dazu, dass das Kind immer weniger Einsatz zeigt. Es glaubt dann möglicherweise, sich auf den Lorbeeren ausruhen zu können, denn schliesslich hat es sein Können bereits bewiesen. Andere Kinder wiederum entwickeln Ängste und meiden anspruchsvolle Aufgaben, weil sie sich fürchten zu scheitern. Das wäre ja dann eine Schmach und ein Zeichen, dass sie doch nicht so klug sind, wie alle glauben.
Dieses Verhalten beschreibt Carol Dweck in ihrem Buch „Selbstbild“. Wir müssen grosse und kleine Kinder zu einem dynamischen Selbstbild führen, also zu einer Einstellung, die besagt, „auch wenn ich es jetzt noch nicht kann, werde ich daran arbeiten, mein Ziel zu erreichen“.
Es ist normal anders zu sein
Selbstverständlich ist es wichtig, hochbegabten Kindes zu fördern. Genauso wichtig ist aber auch das Teilhaben am ganz normalen Alltag! Ein hochbegabtes Kind soll nicht der Nabel der Welt und auch nicht das Zentralgestirn, nach dem sich alle ausrichten sein. Langfristig, wenn auch im Moment nicht immer so easy, ist das Einfordern von Pflichten im Haushalt oder der Besucht bei Tante Monika ein Gewinn für das Kind, wenn es darum geht, ein gern gesehenes Mitglied eines Clubs oder einer Gemeinschaft zu sein. Genauso wichtig wie die Interessen des hochbegabten Kindes, sind auch jene der Geschwister – auch wenn diese vielleicht weniger speziell sind.
Transparenz
Wir tun Kindern keinen Gefallen, wenn wir um ihre „Special Effects“, egal wie diese gelagert sein mögen, ein Geheimnis machen. Das Schmiermittel eines gelungenen Miteinanders ist eine transparente Kommunikation. Diese darf in der Familie genau so stattfinden wie im Aussen. Hochbegabung untersteht nicht dem Familiengeheimnis! Es ist enorm wichtig, dass die Schule informiert ist. Wie dürfen wir sonst erwarten, dass Lehrpersonen adäquat auf Kinder eingehen, wenn wir ihnen essenzielles Wissen über unser Kind vorenthalten? Kristallkugeln gehören nämlich definitiv nicht zum Standartmobiliar eines Schulzimmers.