Seit ich im Jahr 1993 zum ersten Mal Zeit in Neuseeland verbracht habe und das seit dann im Zehnjahres-Turnus immer wieder gemacht habe, interessiert mich alles, was diesem Inselstaat im Südpazifik passiert, brennend.
In unseren Ferien in der Toskana habe ich mir zum zweiten Mal das Buch „der tanzende Direktor“ von Verena Friederike Hasel reingezogen. Ich habe es 2019, kurz nach seiner Veröffentlichung zum ersten Mal gelesen. Es inspirierte mich, einen Vergleich zwischen dem Schweizer Schulsystem und dem neuseeländischen zu ziehen.
Einblicke in Neuseeländische Schulstuben
Als wir (mein späterer Ehemann und Papa meiner Söhne) 1993 bei unserem ersten NZ-Aufenthalt drei Monate in einer Gastfamilie verbrachten, wollte es der Zufall, dass unser Host Father ehemaliger College Lehrer war, der mir auch die Möglichkeit eröffnete, in einige Schulen hineinzusehen. Das ist nun zwar schon bald 30 Jahre her und ich bin nicht mehr 1:1 up to date, was an neuseeländischen Schulen läuft, aber schon damals war ich zutiefst beeindruckt, wie nah die Schule dort an der kindlichen Lebenswelt war. Vielleicht müsste man auch sagen, sie orientierte sich daran. Da war nichts von künstlicher Didaktik zu spüren- nein, es schien mir einfach so, dass das, was für die Kinder eben „dran“ war, direkten Eingang in die Schulstube erhielt.
Ich verwende bewusst nicht den Begriff „Klassenzimmer“ oder „Schulzimmer“, denn ausnahmslos alle Räume, die ich dort gesehen hatte, waren heimelige Orte, die von viel herzlicher, ja familiärer Atmosphäre geprägt waren. Gut in Erinnerung ist mir ein Raum an einer Schule in Russel, einem kleinen, pittoresken Ort im Far North District der Region Northland auf der Nordinsel, der von einem alten Holzofen beheizt wurde, an der anderen Wand aber eine interaktive Leinwand besass. Und das schon 2013! Der Schulleiter erzählte mir dann, dass sie eben im Sommer oft von Prominenten, die die Abgeschiedenheit suchen würden, Besuch bekämen und die würden dann etwas Gutes tun wollen und eben der Schule Geld spenden. So sei auch der Klassensatz brandneuer iPads zu erklären, den er da gerade aufsetze.
Promis, die eine Schule finanziell unterstützen? Das gäbe es bei uns nie und nimmer, zu gross wäre die Angst, sich da in irgendwelche Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben.
Das Neuseeländische Curriculum ist ein Gemeinschaftswerk
Über 15’000 Schüler*innen, Lehrpersonen, Eltern, Wissenschaftler und Maori- Über 15’000 Schüler*innen, Lehrpersonen, Eltern, Wissenschaftler und Maori- Vertreter*innen arbeiteten gemeinsam die erste Rohfassung des aktuellen Lehrplans aus. Danach wurden alle interessierten Bewohner*innen des Landes eingeladen, sich in einer Vernehmlassung dazu zu äussern und in einem weiteren Schritt, machten sich die Verantwortlichen die Mühe, diese Rückmeldungen zu prüfen und in das Curriculum einfliessen zu lassen. Man erhoffte sich, durch dieses Vorgehen einen Konsens zu finden, der späteren Problemen verbeugen könnte. Der Erfolg scheint ihnen recht zu geben. So schneidet Aotearoa, wie NZ in der Sprache der Maoris heisst, bei den internationalen Schulvergleichsstudien wie PISA oder TIMSS (Trends in International Mathematisch ans Science Study) über dem Durchschnitt der OECD- Staaten ab.
Neuseeland orientiert sich an nur fünf Schlüsselkompetenzen
Bei diesen fantastischen Ergebnissen fragt man sich natürlich nach den Grundlagen. In der Schweiz sind im Lehrplan21 die sogannten „überfachlichen Kompetenzen“ wie folgt beschrieben:
Die Schülerinnen und Schüler erwerben in allen Fachbereichen und Modulen sowie über die ganze Schulzeit hinweg personale, soziale und methodische Fähigkeiten, die für eine erfolgreiche Bewältigung unterschiedlicher Aufgaben in verschiedenen Lebensbereichen zentral sind. Sie lernen, über sich selbst nachzudenken, den Schulalltag und ihr Lernen zunehmend selbstständig zu bewältigen, an der eigenen Lernfähigkeit zu arbeiten, vorgegebene und eigene Ziele und Werte zu verfolgen und zu reflektieren. Sie erwerben soziale und kommunikative Fähigkeiten und lernen, mit anderen Kindern zusammenzuarbeiten, Konflikte zu lösen und mit Vielfalt umzugehen. Sie erwerben umfassende sprachliche Kompetenzen, lernen mit Informationen sachgerecht umzugehen und entwickeln Problemlösefähigkeiten.
Diese Kompetenzen gelten ganz allgemein über alle Fächer hinweg. Ihr Vorteil ist, dass engagierte Lehrpersonen hier ganz viel Legitimation für innovative Unterrichtsformen finden können. Leider sind die meisten Lehrpersonen für mein Empfinden noch zu wenig mutig. Aber die Hoffnung bleibt und wenn ich vor Ort an Schulen bis, versuche ich zu ermutigen und aufzuzeigen, was möglich wäre.
Im neuseeländischen Curriculum sind die Schlüsselkompetenzen wie folgt festgelegt:
- Denken
- Symbole und Sprache benutzen
- zu anderen in Beziehung treten
- einen Beitrag leisten
- sich selbst managen
Sich selbst managen, heisst zum Beispiel, sich Ziele zu stecken, Pläne zu schmieden, sich selbst zu motivieren und zu wissen, wann man anführen, wann man folgen muss und wann es besser ist, sich unabhängig von anderen zu machen. Das Zusammenleben gestalten, ist in Neuseeland etwas unheimlich Wichtiges und ist nicht nur im Schulalltag immer wieder ein Thema.
Neuseeländische Schulen setzen auf „Selbstwirksamkeit“
Als ich 2013 bei meinem letzten Besuch die neuseeländischen Lerninhalte mit unseren verglich, fiel mir immer wieder auf, dass die Lernziele in in den „Kernfächern“, viel tiefer angesetzt waren, als bei uns. Obwohl die Kinder ungefähr im gleichen Alter eingeschult werden, mussten sie – zumindest theoretisch – weniger als unsere Schüler*innen können. Wie konnte das sein? Und wie sollte da die Passung zu weiterführenden Schulen und Universitäten stattfinden? Darauf angesprochen gaben mir eigentlich alle Lehrpersonen die gleiche Antwort: Wer unten eine gute Basis legen kann und gezeigt bekommt, wie er sich engagieren und selbstwirksam arbeiten kann, wird mit entsprechendem kognitiven Potenzial fähig sein, sehr schnell grosse Sprünge in den notwendigen Fächern zu machen. Wer Wissen braucht, wird es sich auch holen können, davon sind die Kiwis, wie sich die Neuseeländer auch scherzhaft selber nennen, überzeugt.
Jede Schule in Neuseeland hat ihr eigenes Profil
So wie Kinder ihre eigenes Erscheinungsbild haben, wird dieses im Land der „langen weissen Wolke“ auch den Schulen zugestanden. In einer Art Leitbild formulieren die Schulen konkret aus, wie sie die Ziele des Curriculums mit den Bedürfnissen ihrer Lernenden Einklang bringen wollen. Einen grossen Anteil dabei hat auch die Schülerpartizipation. Bei uns erlebe ich diese oft als Reizwort, als rotes Tuch im Kollegium.
Auf der anderen Seite des Erdballs habe ich dies ganz anders wahrgenommen. So wollten Kinder, die in Matamata, also in der Nähe von „Hobbington“, dem Filmdorf der Hobbits, wohnten unbedingt zur gross angelegten, öffentlichen Premiere des ersten Films von „Herr der Ringe“. Gemeinsam mit ihren Lehrpersonen besprachen sie, wie sie denn überhaupt in die Hauptstadt reisen könnten, wie viel dieses Unterfangen kosten würde und wie sie das benötigte Geld auftreiben würden. Dass dabei sehr viel an Mathe, Geografie und Sprache (die Kinder mussten ihre Ergebnisse anschliessend auch präsentieren) erarbeitet wurde, brauche ich wohl nicht explizit zu erwähnen… Jedenfalls stellten die SuS fest, dass ihnen zur Realisierung des Traums noch Geld fehlen würde. Und hier kommt jetzt ein weiterer Unterschied zum Tragen: Hätte dies bei uns wahrscheinlich Projektabbruch bedeutet, konnten die Kinder nun Ideen generieren, wie sie ihren Fehlbetrag ausfüllen konnten. Die Kids entschieden sich für eine Kostümparty, in denen sie die einzelnen Charaktere aus dem Film darstellten, sich mit Passanten fotografieren liessen und dafür einen Obolus erhielten.
Neuseeländer sind sich gewohnt, Schulen ideell und finanziell zu unterstützen und so kam auch der nötige Betrag für die Fahrt in die Hauptstadt rasch zusammen. Ein grossartiges Erlebnis für die Kinder und ein exzellentes Beispiel dafür, was möglich wird, wenn Schulen ausserhalb der Mauern denken!
Welche Visionen haben Schweizer Volksschulen?
Im Worldwide Educating for the Future Index, der die Zukunftstauglichkeit von Bildungssystemen in der ganzen Welt misst, belegte Neuseeland 2017 den ersten Platz. Und dabei geht es absolut nicht darum, ob alle Schulen Wlan und Ipads haben – auch wenn das bei vielen der Fall ist. 2019 wurde das Land von Schweden und Finland in der Gesamtwertung überholt, blieb allerdings im Bereich des sozio-oköonomischen Umfelds top. Die Schweiz belegt in der Gesamt Wertung übrigens Platz 7, Deutschland Platz 9.
Der Fokus auf das 21. Jahrhundert zeigt sich darin, dass Kinder nicht einfach mit Wissen bestückt werden. Denn kann heute schon voraussagen, was Kinder lernen müssen, damit sie im Jahr 2040 jene Probleme, die wir und unsere Vorfahren ihnen eingebrockt haben, lösen können? Bestimmt werden künstliche Intelligenz und neue Technologien viel verändern und übernehmen. Deshalb fördert man an neuseeländischen Schulen das, was Menschen und das Zusammenleben im Kern ausmachen: Respekt, Empathie, Selbstbewusstsein und Kreativität.
In Zeiten, in der sich die Welt so schnell verändert wie heute, ist gerade Kreativität besonders wichtig- deshalb liebe ich ja auch meinen Auftrag, in der Ausbildung der Begabungsspezialist*innen diesen Aspekt zu vermitteln 🙂
Ich sehe in der Schweiz an vielen Orten wunderbare Ansätze, wie Kinder zu Mut, Selbstwirksamkeit und Kreativität geführt werden. Aber ich vermisse das Feuer, den Flächenbrand, der über die Schullandschaft hinwegfegt. Vielleicht weil der Lehrplan21 als Gesamtwerk erschlagend ist, werden viele Fünkchen im Keim erstickt, geht den Lehrpersonen der Atem aus, bevor das Feuer um sich greifen kann. Es geht ja nicht darum, in irgendwelchen Rankings Top Plätze zu belegen – es geht darum, die Kinder in ihrem Tempo, ihren Fähigkeiten entsprechend zu befähigen, ein erfülltes Leben zu leben, in das sie sich einbringen und als wertvollen Teil der Gemeinschaft wahrnehmen können.
Aber es gibt Hoffnung – und zwar von „oben“! Im Buch „Schule 21 macht glücklich“ beschreiben Schulleitende und Bildungsfachleute sehr praxisnah, wie sie ihre Schulen zu Orten machen, wo Bindung, Selbstbestimmung, Digitalität , Umweltbezogenheit und Bewegung nicht bloss Papiertiger sind, sondern richtig Biss haben.
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