Hochbegabung – worum es geht

Tag 5 der Blockdekade im August 2023. Noch bin ich dabei…

Seit vielen Jahren folge ich der deutschen Schauspielerin, Poetry-Slammerin, Dichterin und Sängerin Julia Engelmann. Einer ihrer allerersten Auftritte in der Öffentlichkeit am 5. Bielefelder Hörsaal-Slam habe ich 2014 gesehen und war damals schon von dieser jungen Studentin beeindruckt, die mit ihrem Aufruf, unsere Zeit gut zu nutzen, ganz viele Menschen berührt hat. Die Tiefe ihrer Worte haben mich sofort an Hochbegabung und Hochsensitivität denken lassen.

Besonders berührt mich aber Julia Engelmanns Gedicht „Stille Wasser sind attraktiv“. Immer wieder spiele ich es auch meinen Studenti:innen im Ausbildungsgang für Begabtenförderlehrpersonen vor. Da sind so viele Worte, verdichtet und auf den Punkt gebracht, in denen ich meine Klient:innen, Schüler:innen und mich wiederfinde.

Doch lies selbst:

Ich, ich bin ein Nerd, aber kein schicker Hipster,
mehr ein Vieldenker, voll Hirngespenster
ich surfe auf keiner Mode-Klischee-Retro-Welle, ich surfe im Internet
such Lesebrillengestelle für echte Augen,
um Bücher zu lesen und Texte zu schreiben
und nicht um Fotos zu schiessen und mich bei Facebook zu zeigen

Und manchmal hab ich das Gefühl, ich bin anders und allein
keiner scheint mir ähnlich und keiner scheint mir nah zu sein,
und manchmal hab ich das Gefühl, niemand ist wie ich,
Ein Platz, an den ich passe – den gibt es für mich nicht
Aber warum bin ich anders und was muss noch passieren?
Ich mein‘, was mach ich falsch? Ich will doch bloss dazugehören.
Aber wozu denn gehören? Und was soll das denn heissen,
weil wir alle doch anders und dadurch wieder gleich sind.

Und es geht doch um den Inhalt, viel mehr als um die Form
Es geht doch um den Einzelfall, viel mehr als um die Norm
Es geht nicht um Physik, sondern um Fantasie
Und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie.

Es geht auch darum, dass wir uns kennen,
mehr als, dass wir mal einsam waren
und es geht nicht um das, was uns trennt,
sondern um das, was wir gemeinsam haben
Es geht nicht ums gewinnen,
sondern darum, dass du kämpfst
es geht nicht um den Takt an sich,
sondern darum, dass du danced,
Es geht nicht drum, was wir haben,
sondern um, was wir daraus machen
Es geht nicht um den Witz an sich,
sondern darum, dass wir lachen
Es geht nicht drum, was wir tragen, wie wir lächeln, wie wir reimen
Es geht darum, was wir sagen, ob wir echt sind, was wir meinen.
Vielleicht geht’s nicht ums Happy End,
sondern mal heute nur um die Geschichte.
Vielleicht geht’s nicht darum, ob ich anders,
sondern darum, dass ich bin
Vielleicht geht’s nicht darum, die ganze Welt zu erfassen
und alles zu verstehen
Vielleicht geht’s darum, „Hakuna Matata“ zu sagen
und einfach mal gerne zu leben.

Weil, es geht doch um den Inhalt, viel mehr als um die Form,
Es geht um deinen oder meinen Einzelfall, viel mehr als um die Norm
Es geht nicht um Physik, sondern um Phantasie
und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie.

Und was soll das überhaupt heissen?
Was soll das überhaupt heissen, jemand ist sonderbar und eigenartig,
das sind doch bloss Synonyme für besonders und für einzigartig
Jemand sagt dir: „Du bist anders“, dann denk dir für dich: „Anders ist nicht falsch, ist bloss ’ne Variante von richtig.“

Und wer andere abgrenzt, grenzt sich selber ein
Wer andere schwach macht, glaubt nicht stark zu sein
ich mach mein Herz weit und lass Leben rein,
weil ich dran glaube gut genug zu sein

Und dann treff‘ ich dich…
Und du siehst mich und du nimmst mich wahr,
Bist bei mir und bist für mich da,
Nimmst meine Schatten und machst die Sicht klar,
machst mich wahrhaftig, machst mich sichtbar
Und auf den ersten Blick bin ich vielleicht nicht so cool,
für manche vielleicht sogar langweilig.

Aber ich hör dir gerne beim Reden zu und ich mag deinen Klang,
weil ich dich mag und wie wir die Welt für uns drehen
und dadurch wirst du für mich schön
Und ich finde meinen Platz und ich finde meinen Raum in der kleinsten Schnittmenge aus deiner und aus meiner Welt
Wir sind unser kleinstes gemeinsames Vielfaches,
Wir sind das, was uns zusammen hält,
Und wir beide, wir sind mehr als die Summe unserer Teile
Wir beide sind so viel mehr als die Stunden, die wir teilen,
Wir beide sind so viel merkwürdig eigentlich, dass ich das jetzt erst geblickt hab.

Es geht um den Inhalt, viel mehr als um die Form,
Es geht um deinen und um meinen Einzelfall viel mehr als um die Norm, es geht nicht um Physik, sondern um Fantasie,
Und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie.

Worum geht es bei Hochbegabtenförderung?

Ja. Es geht um den Inhalt, viel mehr als um die Form! Ist doch egal, ob Gedanken aufgeschrieben, erzählt, aufgenommen, gerappt oder gesungen werden. Hauptsache, sie werden mitgeteilt und verlassen den Kopf. Es ist unvorstellbar, wie viele Kinder (und Erwachsene!) ihre Kopf-Karusselle nicht abstellen können, weil sie sie keine Möglichkeit haben, diese Gedanken sicht- oder hörbar zu machen. Das gilt im Privaten wie in der Schule. Es geht um Inhalt, nicht um Form! Und wenn solche Gedanken dann auch noch das Schulwesen verändern – umso besser!

Ja. Es geht um deinen und um meinen Einzelfall viel mehr als um die Norm. Es geht um jeden Einzelfall. Egal, wie hoch sein IQ ist. Bei den schwächeren Kindern haben das die meisten schon verstanden. Aber dass die Kinder am anderen Ende der Glockenkurve sich eben nicht selber fördern, sondern ohne Inputs und Freiräume depressiv, laut, chaotisch, aufmüpfig oder aggressiv werden, hat sich noch längst nicht überall herumgesprochen.

Jein. Es geht nicht um Physik, sondern um Fantasie – natürlich geht es um Fantasie – denn sie ist unbegrenzt (hat schon Einstein gesagt!) und mit ihr werden wir fähig sein, viele anstehende Herausforderungen zu lösen. Wenn man uns denn lässt. Und je nach Problemstellung ist es dann wohl auch hilfreich, wenn man eine Ahnung von Physik hat.

Genau. Und vor allem geht’s ums Was, viel mehr als um das Wie. Es geht darum, dass in den Köpfen von Behörden, Schulleitungen und Lehrpersonen ankommt, dass jedes Kind ein Recht auf adäquate Förderung hat. Und dass das heisst, dass ein 1. Klässler Harry Potter lesen darf, wenn er das kann. Das ist nicht ungerecht für die anderen, die das auch möchten. Sie dürfen, wenn sie es können. Es geht ums Was, um die Lernmöglichkeiten, die wir allen Kindern bereitstellen sollen – was heisst, dass unsere Schulen, so wie sie heute noch stehen, über kurz oder lang (und ich tippe auf kurz!) ausgedient haben.


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