Auf meinen Mindfuck-Artikel, in dem es darum ging, dass Hochleistung nur ab IQ 130 möglich sei, habe ich einige Reaktionen bekommen. Teilweise haben sie meinen geplanten Anschlussartikel, also diesen hier, schon vorweggenommen. Es geht darum, dass Hochbegabte auch übersehen werden können, was dann wieder schwerwiegende Konsequenzen haben kann.
„In meiner Klasse sitzen keine Hochbegabten“
In unserer Schulgemeinde sind die Lehrpersonen (und damit meine ich explizit auch die Kindergärtner:innen) mittlerweile sehr auf die Thematik sensibilisiert. Sie wissen, dass auffällige Verhaltensweisen nicht nur auf Entwicklungsverzögerungen, Erziehungsfehler oder den Vollmond zurückzuführen sind, sondern durchaus auch Hinweise auf Unterforderung sein können.
Sitze ich aber im Auftrag von Familien an Rundtischgesprächen irgendwo im Land, erlebe ich auch heute noch solche Aussagen. Lehrpersonen, die allen Ernstes sagen, dass sie in ihrer Berufskarriere noch nie mit hochbegabten Kindern zu tun gehabt haben. Dies entlockt mir ein trauriges Lächeln, weil ich weiss, dass meine Kolleg:innen diese Kinder wohl einfach übersehen haben.
Nicht nur Mädchen werden übersehen
Nicht nur die stillen Mädchen werden übersehen, es gibt auch viele Jungs, die aufgrund ihres Charakters einfach durchs Raster fallen. Sie reagieren nicht wie ihre Geschlechtsgenossen mit Aggression oder Show-Einlagen auf unerkannte Unterforderung, sondern ziehen sich zurück, reagieren gar psychosomatisch oder entwickeln andere Verhaltensauffälligkeiten.
Natürlich gibt es auch noch andere Kinder, die potenziell Gefahr laufen, übersehen zu werden! Solche mit Migrationshintergrund, oder jene, die ein Handicap wie LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche), AD(H)S. selektiven Mutismus mit sich tragen. Die Palette der Neurodivergenzen ist gross und es ist leider immer noch so, dass der Fokus zuerst auf die vermeintlichen „Defizite“ fällt.
Konsequenzen, wenn Hochbegabte übersehen werden
Natürlich ist es immer individuell, wie viel Anpassungsleistung an ein marodes Schulsystem das einzelne Kind leisten kann. Das hängt einerseits mit der persönlichen Konstitution zusammen und andererseits mit dem familiären Hintergrund. Wie viel „Auffangarbeit“ und Förderung kann dort geboten werden?
Um es hier in aller Deutlichkeit zu deponieren: Es ist Aufgabe der Schule, Kinder ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechend zu fördern! Es kann nicht sein, dass es auf die finanziellen Möglichkeiten und den Bildungshintergrund der Ursprungsfamilie ankommt, wie viel Hirn-Futter ein Kind kriegt!
Kennen wir von gepushten Kindern, den sogenannten „Overachievern“ Burnout-Erscheinungen, erleben wir bei unterforderten Hochbegabten das sogenannte „Boreout„. Es ist eine direkte Konsequenz daraus, dass hochbegabte Kinder nicht gesehen werden und alle Hilfeschreie, wie unangepasstes Verhalten, Rückzug, Verweigerung etc. nicht genutzt haben.
Viele physische und psychische Symptome können parallel auftreten, eine chronologoische Steigerung muss nicht sein. Tatsache ist bloss, dass die Symptome immer heftiger werden und im schlimmsten Fall im Suizid gipfeln können.
Nicht jede Hilfe hilft
Viele Schulen bieten bei Verhaltensauffälligkeiten eine ganze Palette an Hilfestellungen an: Schulsozialarbeiter:innen, kurzfristige Timeoutangebote wie „Schulinseln“, können hilfreich sein, wenn lösungsorientiert und kreativ gedacht und nicht nur an Baustellen herumgeschraubt wird. Dann werden plötzlich entlastende Lösungen möglich. Leider erlebe ich in meiner Beratungstätigkeit auch anderes: Schulpsycholog:innen, die drohen und Druck aufbauen, Sozialpädagogen, die einen Schulausschluss ankündigen, wenn sich das Kind „nicht endlich mal zusammennimmt“.
Ich gehe immer davon aus, dass sog. Miss-Verhalten nicht bösem Willen entspringt, sondern ein echter Hilfeschrei ist. Und wenn Fachleute jungen Menschen helfen, dem Ursprung dieser Reaktionen auf die Spur zu kommen, dann ist das wunderbar. Und selbstverständlich ist es auch nicht verboten, Strategien, wie mit überbordenden Gefühlen umgegangen werden kann, zu entwickeln und auszuprobieren. Aber in erster Linie sollte der Grund dafür behoben werden. Bei Überforderung könnte dann vielleicht ein Mentorat, ein Klassensprung oder ein Enrichment sinnvoll sein.
Fachpersonen-Karussell
Manchmal sind Gründe- und Ursachenforschung äusserst komplex. Oft sind auch viele Spezialist:innen involviert, wenn es darum geht, einem Kind zu helfen. Grundsätzlich finde ich es gut, wenn sich Puzzleteilchen zu einem grossen Gesamtbild zusammenfügen. Wichtig ist dann einfach auch ein strukturierter interdisziplinärer Austausch, damit konstruktive Massnahmen abgeleitet und implementiert werden können. Optimalerweise wird eine Person mit der Fallführung betraut, die dann immer auch erste Ansprechperson für die Eltern ist.
Eltern ernst nehmen
„Natürlich machen wir dies!,“ höre ich manche Fachleute schon entrüstet murmeln oder aufbegehren. Selbstverständlich haben die wenigsten Eltern psychologisches Fachwissen und/oder Vergleichsmöglichkeiten mit Gleichaltrigen. Aber und dieses Aber möchte ich gross und fett herausheben. Aber sie sind Experten für ihr Kind. Sie kennen es am längsten, am nächsten, wissen um sein Verhalten, um seine Stärken und Schwächen. Sie sehen, wenn ihr Kind nur noch traurig auf dem Sofa rumlümmelt und nicht einmal mehr Lust auf die Lieblingsserie hat. Genauso ertragen sie die Stille, wenn ihr Kind nicht mehr reden oder musizieren mag. Es sind ihre Alarmglocken, die laut schrillen, wenn etwas nicht mehr stimmt. Und von dem her: Nehmt die Aussagen von Eltern ernst, holt sie ins Boot, bezieht sie ein, wo immer es möglich ist.
Nicht nur Kinder werden übersehen
Unsere Gesellschaft leistet sich den Luxus, ganz viele Potenziale brachliegen zu lassen. Da sind so viele hochbegabte Erwachsene – vor allem Frauen! – , deren Talente nicht zum Zug kommen, weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht auf dem Radar waren. Zu den bereits oben erwähnten könnte auch eine bildungsferne Ursprungsfamilie zählen. Der Gedanke daran, dass Hochbegabte aus einem nicht-akademischen Elternhaus kommen könnten, war (zum Teil ist) für Psychologen und Lehrpersonen undenkbar.
Weil wir wissen, dass Intelligenz auch vererbt wird, kann so ein Teufelskreis entstehen, der für alle Beteiligten tragisch ist.
Fokus auf Potenziale
In einer Welt, die sich immer schneller dreht, in der die Halbwertszeit des Wissens immer geringer wird, brauchen wir alle möglichen Ressourcen, um das Leben auf dem blauen Planeten lebenswert zu behalten. Wir können es uns einfach nicht leisten, Potenziale und Menschen nicht wertzuschätzen!
Mein Ziel ist es, Erwachsene auf die Talente der Kinder hinzuweisen, den Kindern ein Umfeld zu schaffen, in dem sie diese zum Blühen bringen können. Und wenn ich dabei Eltern und Lehrpersonen ermuntern kann, ihre eigenen Begabungen ins Spiel zu bringen – umso besser!
Liebe Dina. Du sprichst mir aus dem Herzen! Es geht uns allen besser, wenn sich jeder seinen Potenzialen gemäss entfalten kann und darin unterstützt wird. Ich vermisse in deinem Artikel etwas die Thematik der „leisen“ Hochbegabten, die sich zurückziehen und in die Minderleistung gehen statt durch unangepasstes Verhalten aufzufallen. Hast du dazu eventuell Tipps, gute Bücher oder auch schon etwas geschrieben? Liebe Grüsse Eveline
Liebe Eveline
Danke für dein Feedback! Ja, zu Minderleistenden habe ich vor mehr als einem Jahr einen Artikel geschrieben:Voilà!.
Die „leisen“ HB erwähne ich oft in meinen Texten – ich habe sie sehr wohl auf dem Radar. Allerdings müssen immer sehr viele Rädchen ineinander greifen, damit sinnvolle Förderung möglich wird. Herzliche Grüsse
Dina
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