Mentoring – „Gold Standard“ der Begabtenförderung

Eine (überspitzte) Analyse des Ist-Zustandes

An vielen Schulen wird heute in irgendeiner Form Begabungs- oder Begabtenförderung betrieben. Betrieben mag jetzt ein bisschen überspitzt klingen, aber gerade aus meiner Tätigkeit als Begleiterin für Familien mit hochbegabten Kindern kann ich sagen, dass die Massnahmen oftmals leider auch ziemlichen Alibi-Charakter haben.
Die Zulassungsbedingungen sind häufig verworren, diffus oder undurchsichtig, aber Hauptsache, man macht „etwas“ und kann dieses „Etwas“ in ein schönes Konzept eingebettet präsentieren.

Vor allem Kinder, welche zwar auf der einen Seite hohes Potenzial aber vielleicht auch ein Handicap in Form von ADHS, LRS (Lese-Rechtschreibschwäche) oder Dyskalkulie (Rechenschwäche) mitbekommen haben, ziehen in solchen Situationen häufig den Kürzeren.

Mentoring

Mentoring gilt in der Begabungs- und Begabtenförderung als wirkungsvolles Instrument zur Förderung von Kindern mit unausgeglichenen Entwicklungsprofilen, weil das Vorgehen prozessorientiert und vom Kind und seinen Interessen ausgehend verläuft. Unter Berücksichtigung des jeweiligen Entwicklungsstandes des Kindes, der in einigen Bereichen bezüglich Fähigkeiten und Fertigkeiten auseinanderklaffen kann, wird versucht, eine bestmögliche Passung zwischen Mentor und Mentee herzustellen.

Mentor / Mentee – Was ist das Überhaupt?

Lasst mich einen kurzen Exkurs in die Geschichte machen: „Odysseus“, die wohl berühmteste Sage des klassischen Altertums, wurde ca. 800 v. Chr. von Homer geschrieben. Odysseus verliess als König von Ithaka seine Heimat, um im griechischen Feldzug gegen Troja mitzukämpfen. Für die Zeit seiner Abwesenheit unterstellte er seine Frau Penelope und seinen Sohn Telemachos dem Schutz seines Freundes Mentor. Gemäss der Überlieferung schlüpfte Athene, die Göttin der Weisheit, von Zeit zu Zeit in die Gestalt von Mentor und nahm ebenfalls Einfluss auf Telemachos- dies aber nur als Randbemerkung zu den weiblichen, oder besser gesagt göttlichen, Superkräften… In der Sage wird sichtbar, dass Mentor seinem Schützling viel mehr als ein Aufpasser und Erzieher war- er war auch ein kluger Ratgeber, ein väterlicher Freund und ein aufmerksamer Beschützer[1].
1699 hat der französische Erzieher und Schriftsteller François de Salignac de La Mothe-Fénelon diese antike Vorlage in seiner Novelle «Les Adventures des Telemaque « pädagogisch verarbeitet. Alsbald ging der Begriff «Mentoring» in Frankreich und England in den allgemeinen Wortschatz ein- im Gegensatz zu Telmaque, der absolut fiktiv blieb. So sprechen wir auch heute von Mentor und seinem Mentee und nie von seinem Telemach, wie es eigentlich logisch wäre.

[1] Stöger, Hedrun, Ziegler, Alber & Schimke, Diana (Hrsg.) (2009), Mentoring: Theoretische Hintergründe, empirische Befunde und praktische Anwendungen. Lengerich: Pabst Science Publishers

Und die Praxis?

In der Praxis muss der Begriff Mentor oder Mentorat für allerlei krudes Zeug herhalten. Die bereits erwähnten Stöger, Ziegler und Schimke definieren Mentoring folgendermassen und so meine ich dies auch im Verlauf der weiteren Ausführungen: «Mentoring ist eine zeitlich relativ stabile dyadische Beziehung zwischen einem/ einer erfahrenen MentorIn und seinem/ r/ n weniger erfahrenen Mentee. Sie ist durch gegenseitiges Vertrauen und Wohlwollen geprägt. Ihr Ziel ist die Förderung des Lernens und der Entwicklung sowie das Vorankommen des/der Mentee.»

Und was heisst das jetzt konkret?

In der Terminologie der Begabtenförderung ist ein Mentor ein Experte in seinem Fachbereich, der die Lernenden, eben die Mentees, in ihren Interessensbereichen oder bei einer Forschungsarbeit unterstützt, damit sie fachlich tiefer eintauchen können. Daneben steht aber auch die persönliche Beziehung im Fokus, weil diese Mentoren zu wirklichen Vorbildern heranreifen können, die sehr prägend auf Selbstbild und Selbstverständnis der Mentees wirken können.

Mentoren können eigentlich alle Menschen sein, die Interesse daran haben, Kinder auf ihrem Weg zu begleiten. Egal ob Künstler, Handwerker, Forscher oder einfach Menschen mit einer grossen Passion für ein bestimmtes Hobby oder eine Kultur – wichtig sind das grosse Engagement und die Fachkenntnis, die sie auszeichnen. Bei entsprechender Passung können selbstverständlich auch junge Menschen, z.B. Student*innen, oder Senior*innen Mentorate übernehmen und natürlich können auch Lehrpersonen mit Expertise in einem Bereich als Mentor*innen tätig sein!

Organisatorisches

An Schulen obliegt es der für die Begabtenförderung zuständigen Lehrperson entsprechende Mentoratsangebote zu organisieren und zu betreuen, was heisst, dass die Mentoren auf ihre Aufgabe vorbereitet werden und jederzeit mit Support rechnen dürfen. Für unsere Schule habe ich einen Mentoratspool mit ganz verschiedenen Angeboten aufgebaut, der von der Anwältin über den Clown bis zum Zauberer reicht . Auf diesen Pool wird auch von Klassenlehrpersonen zugegriffen, wenn sie in NMG (Natur, Mensch, Gesellschaft, also Sachkundeunterricht) einen Experten in Schulzimmer holen wollen oder für einige Kinder ein Enrichment, also eine Anreicherung des Basislehrstoffes, planen. Primär ist der Mentoratspool aber für begabte Kinder gedacht, die ihr Wissen in einem bestimmten Thema ausbauen wollen.

In Anbetracht dessen, dass Mentoren mit ihren Mentees allein arbeiten, in den meisten Fällen ausserhalb des Schulhauses, gibt es auch die zwingende Auflage, dass diese Erwachsenen ein einwandfreies Leumundszeugnis vorweisen müssen. Das mag vielleicht auf den ersten Blick befremdlich wirken, aber wenn wir bedenken, dass da schul-externen Personen, auch wenn wir sie vielleicht sogar persönlich kennen, Kinder anvertraut werden, müssen wir uns bewusst sein, dass wir hier Verantwortung mittragen. Genauso kommuniziere ich dies jeweils auch gleich am Anfang potenziellen Mentoren, damit sie nicht brüskiert sind. Die Kosten für das Leumundszeugnis sollte eigentlich von der Schule übernommen werden.

Pädagogisches

Anders, als wenn Experten für ein spezielles Thema wie z.B. Bienenzucht in die Klassen kommen, davon erzählen und den Fragen der Lernenden beantworten, geht es bei Mentoraten um eine 1:1 Betreuung, die inspirierend und nachhaltig wirken soll. Das heisst konkret auch, dass der Lernort Schule nicht beibehalten werden muss, sondern dass es im Gegenteil auch wünschenswert ist, dass Mentees an Arbeitsplätze oder in Werkstätten Arbeitsluft schnuppern dürfen. Das Bild von der Schule als einzigen Platz des Lernens ist absolut veraltet und wenn man bedenkt, wie viel junge Kinder vor Schuleintritt auch ohne Bildungsanstalt bereits gelernt haben, eigentlich auch absolut logisch nachvollziehbar.

Schule kann und muss nicht alles leisten. Dieses Zusammenspiel zwischen ausserschulischen Lernorten und Experten erweitert und bereichert das Spektrum der Begabtenförderung. Neben der Erweiterung von fachlichen Kompetenzen geht es auch um den Aufbau co-kognitiver Fähigkeiten und eines positiven Selbstbewusstseins im Umgang mit dem eigenen Können. Das heisst konkret aber auch, dass die Mentees von einer professionelle Lernbegleitung durch die Begabtenförderlehrperson und einer etablierten Anerkennungskultur für individuelle Hochleistungen profitieren können sollte. Nicht umsonst bezeichnete der leider kürzlich verstorbene Victor Müller-Oppliger Mentoring als «Gold Standard der Begabtenförderung».
Weiter zeigen Erfahrungen, dass solche Mentor-Mentee-Begegnungen durchaus inspirierend und richtungsweisend bezüglich Studien- oder Berufswahl wirken können.

Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, ist Hochbegabung nicht automatisch mit Hochleistungsverhalten oder Hochleistung gleichzusetzen. Hochleistungsverhalten kann sich in der Wechselwirkung von individuellem Potenzial und erfolgreichen Lernprozessen entwickeln.
Es ist inspirierend und ermutigend, wenn Schulen ein Umfeld schaffen, in welchem Hochleistung gezeigt werden kann und darf und diese auch anerkannt wird. In den letzten Jahren hat die Begabungsförderung hat ihren Fokus von der einseitigen Fixierung auf hochbegabte Kinder und Jugendliche zu einer systemischen Betrachtungsweise verlagert, wie Begabungspotenziale in der Schule erfasst und realisiert werden können. Dabei ist die Umsetzung von Begabungen gleichermassen von der Initiative der Betroffenen, ihrer Motivation, ihrer Leistungsbereitschaft und Sinnerkennung abhängig wie von der Lern- und Bildungsumgebung. Die Implementierung von Mentoring ist diesbezüglich sinnvoll und zukunftsweisend. In dem Sinn bleibt zu hoffen, dass «Mentoring Schule macht».

Ein Gedanke zu „Mentoring – „Gold Standard“ der Begabtenförderung

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