Dieser Tage hat das Gottlieb Duttweiler Institut seine Studie «In guter Gesellschaft» , worin Erkenntnisse zum Thema „Freundschaft“ veröffentlicht wurden, publiziert.
Hochbegabten wird ja immer eine gewisse „eigenbrötlerische“ Komponente nachgesagt. Aber ist dies wirklich so? Pflegen Hochbegabte Freundschaften oder sind sie sich selbst genug?
Der Mensch als soziales Wesen
Wären wir Menschen nicht soziale Wesen, hätten wir kaum so lange überlebt. Der Kampf gegen den Säbelzahntiger aber auch die Anstrengungen um das tägliche Brot wären wohl als Einzelkämpfer kläglich zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Wissenschaft weiss, dass die grösste Motivation von uns Menschen der Wunsch nach Zugehörigkeit ist – egal, ob die Gruppe die Schulklasse, der Fussballverein oder die Pfadfinder sei – irgendwo zugehörig sein, das ist wichtig! Allerdings ist das Bedürfnis nach Zugehörigkeit individuell, auch das muss respektiert werden.
Gemäss der oben erwähnten Studie haben Schweizer:innen im Schnitt einen engen
Freundeskreis von 4 Personen, einen erweiterten Freundeskreis von 8 Personen und sehen
diese Menschen einige Male pro Monat. Das entspricht in etwa den Zahlen aus Deutschland
und den USA. Aber wie gesagt: Es handelt sich um Durchschnittswerte!
Irgendwie anders
Das Buch vom „irgendwie anders“ habe ich anderer Stelle auch schon erwähnt. Es ist ein so gelungenes, wichtiges Bilderbuch, weil bereits junge hochbegabte Kinder spüren können, dass sie eben nicht ganz der Norm entsprechen. Oft haben hochbegabte Kinder auch ganz hohe Ansprüche an Freundschaften wie Verlässlichkeit, Loyalität und Verbindlichkeiten, welche ihre gleichaltrigen Kameraden (noch) nicht einhalten können.
Es ist eben gar nicht so, wie man oft liest oder in Elterngruppen auf dem Spielplatz hört, dass hochbegabte Kinder asozial und emotional unreif seien. Im Gegenteil. Sehr viele haben eine sehr hohe Sozialkompetenz – wenn ihnen nicht noch eine andere Diagnose reingrätscht, können sie diese auch leben. Allerdings ist es natürlich schwierig, eine Freundschaft zu pflegen, wenn die Interessen und Bedürfnisse ganz unterschiedlich sind.
Freundschaften im Klassenverband
Viele Lehrpersonen berichten davon, dass die hochbegabten Kinder ihrer Klasse Einzelgänger seien, die keine Freunde fänden oder an Freundschaften gar nicht interessiert seien. Tatsächlich mag dies so wirken – aber die meisten hochbegabten Kinder, die ich kenne, hätten sehr gerne einen BFF (best friend forever). Aber oft scheitert es tatsächlich daran, dass die Interessen in jungen Jahren noch arg auseinander klaffen.
Ich erinnere mich an Simone, die ihrer 2. Klasse das Spiel „Go“ erklären wollte. Sie hatte es bei mir im Pullout entdeckt und mit einer älteren Schülerin erarbeitet. Simone erhoffte sich, dass sie Kinder fände, die das Spiel ebenfalls toll fänden und dass sich Möglichkeiten ergäben, es anstelle langweiliger Übungsphasen im Unterricht oder in der Freizeit spielen zu dürfen. Leider ging dieser Wunsch nicht in Erfüllung: Simone erzählte mir, dass die meisten Kinder gar nicht richtig zugehört hätten und nur zwei Jungs Interesse gezeigt hätten. Aber als sie dann in der Kleingruppe versucht hätten, zu spielen, hätten die Jungs die Regeln immer wieder zu ihren Vorteil abgeändert und behauptet, sie würde mogeln. Simone war konsterniert.
Andere Interessen und Voraussetzungen
Simones Frust ist nachvollziehbar. Es ist einfach so, dass gleichaltrige Kinder meist andere Interessen haben. Bei den Jungs ist es meist Fussball, was viele hochbegabte Knaben nicht so interessiert (Ausnahmen bestätigen die Regel!). Zudem sind die meisten Zweitklässler noch nicht so weit, dass sie ein komplexes Spiel wie „Go“ fasziniert, weil es einfach zu hohe kognitive Ansprüche stellt.
Man kann also keinesfalls sagen, dass es Simones Schuld sei, dass niemand mit ihr das Spiel spielen will. Es ist auch nicht die Schuld ihrer Kolleg:innen, die gerne mit ihr „Biberbande“ spielen würden, was Simone wiederum kindisch findet. Es entsteht hier einfach ein klassischer „Misfit“, eine Nicht-Passung, wie es der verstorbene Kinderarzt Remo Largo ausdrücken würde.
Wenn sich jetzt Simone frustriert fühlt, ist das nachvollziehbar. Aber wie könnte ihr geholfen werden?
Freundschaften auf Augenhöhe
Wenn wir bedenken, dass Kinder mit hohem Potenzial ihren Altersgenoss:innen oft mehrere Jahre „voraus“ sind, dann liegt die Schlussfolgerung nahe: Der Austausch mit älteren Kindern muss gefördert werden.
Hat ein Kind ein klares Spezialgebiet, besteht vielleicht sogar die Möglichkeit, dass es einen Verein oder Club dazu findet.
Bei diffusen oder generell sehr breiten Interessen kann ich die Angebote des Elternvereins für hochbegabte Kinder (ehk) empfehlen. Bei uns im Kanton Luzern gibt es auch spezielle Förderangebote des Volksschulamtes, bei denen die Kinder über die Lehrperson angemeldet werden können.
Das Freundefinden ist für mich auch ein grosses Plus der Pulloutprogramme einzelner Schulen oder Regionalzentren. Viele Kinder finden auf diesem Weg zum ersten Mal Freunde, bei denen sie keine faulen Kompromissen eingehen müssen.
Genügend Sozialkompetenz
Forschung und Erfahrung zeigen, dass es hochbegabten Kindern in aller Regel nicht an Sozialkompetenz fehlt. Im Gegenteil, die meisten haben davon sehr viel. Aber ihr Bedürfnis ist das gleiche, wie jenes anderer Kinder auch: In einer Gruppe angenommen werden, so wie man eben ist. Ich kenne einige Kinder, die erst im Gymnasium oder gar an der Uni das erste Mal „echte“ Freunde gefunden haben. Das ist zwar traurig, aber besser spät als nie!
Pingback: Begabt & glücklich: Rückblick auf Juli/August 2023 - begabt & glücklich