Wieso sich Lehrpersonen durch hochbegabte Kinder bedroht fühlen

Es ist so traurig, aber immer wieder erlebe ich es, dass sich Lehrpersonen offenbar durch hochbegabte Kinder bedroht fühlen! Es würde es ja kaum jemand zugeben. Aber gerade in Rundtischgesprächen drückt dieses Gefühlt oft unterschwellig durch. Und ich erinnere mich an eine Lehrerkollegin, die mich mal gefragt hat, wie ich denn damit klarkommen würde, dass es immer wieder Kinder gibt, die mir in einem Gebiet überlegen seien. Bestens – ich habe ein gutes Selbstbewusstsein 😉 . Im Ernst: Ich freue mich darüber!

Paradigmenwechsel

Wer meinem Blog schon länger folgt, weiss, dass ich schon mehrere Jahrzehnte Schuldienst auf dem Buckel habe. Die haben mich nicht gekrümmt, sondern in aller Regel sehr bereichert. Es ist jedoch nicht nur daher gesagt, wenn ich anmerke, dass es tatsächlich andere Kinder sind, die ins Schulleben eintreten. Das ist in keinster Art und Weise wertend gemeint, aber einerseits eine logische Konsequenz der sich verändernden Familien- und Umweltkonstellationen. Wo früher mehrheitlich intakte Familienverhältnisse herrschten – zumindest gegen aussen – und mehrere Geschwister sich Elternliebe und Spielzeug teilen mussten, sehen sich heute viele Alleinerziehende den Herausforderungen rund um die optimale Erziehung ihres Wunschkindes gestellt. Und nicht wenige sind damit überfordert, Leitplanken zu setzen, die ihren Kindern Sicherheit geben.
Versteh mich nicht falsch: Ich finde es lobenswert, wenn sich Eltern bemühen, ihren Kindern auf Augenhöhe zu begegnen und bedürfnisorientierte Erziehung ist eine wunderbare Sache, wenn sich die Rollen dabei nicht total ins Gegenteil verkehren. Es kann nicht sein, dass Kinder das Sagen haben, wo es lang geht. Das ist schlichtweg nicht fair, weil Kinder die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht abschätzen können und schliesslich überfordert werden.

Kinder einer neuen Zeit

Andererseits sind es einfach auch andere Zeiten. Wer sich verantwortungsvoll für ein Kind entscheidet, weiss, dass sich die Umwelt rasant verändert. Wir Menschen haben immense Herausforderungen verschiedenster Art zu bewältigen – aber auch neue Technologien und ein zunehmendes kollektives Verantwortungsbewusstsein, um diese anzupacken.
Die Kinder, die in den letzten 20 Jahren zur Welt kamen und noch geboren werden, wachsen in einer digitalisierten Umwelt auf, die sie vieler realen Erfahrungen der letzten Generationen beraubt. Das liegt weniger an der Digitalisierung an sich als am ungeübten, ungünstigen Umgang der verantwortlichen Erwachsenen mit diesen neuen Möglichkeiten. Statt Kinder im Matsch wühlen zu lassen, drückt man ihnen ein Tablet in die Hand, statt mit ihnen über Baumstämme zu balancieren, bewegt man sie via XBox vor dem Fernseher. Viele Erstklässler können keinen Purzelbaum mehr – das ist vielleicht nicht existentiell, aber doch ein Zeichen, wie viel an Bewegungskultur verloren gegangen ist.

Und doch sind es diese Kinder, die es in der Hand haben, unseren Planeten zu retten. Und tief in mir drin glaube ich auch, dass sie das bewerkstelligen können. Aber gerade deshalb müssen wir diese Kinder nach all unseren Kräften darin unterstützen, ihre Potenziale zu leben. Ein schönes, wenn auch nicht weltbewegendes, Beispiel dazu habe ich heute auf Instagram gelesen..

Wissenshoheit und Lehrerbilder

Als ich ein Kind war und mich bei Tisch mal über den Lehrer beklagt habe, kam postwendend die Antwort „Er wird schon gewusst haben, warum er dich angeschrien/ bestraft/ gemahnt… hat“. Heute ist das definitiv anders und nicht wenige Eltern greifen schnell zum Handy, um sich bei der Lehrperson über ihr vermeintliches Fehlverhalten zu beschweren.
Ich finde beides nicht gut. Aber es ist definitiv so weit, dass wir in der Zeit von künstlicher Intelligenz und Suchmaschinen die Wissenshoheit von Lehrpersonen in Frage stellen dürfen.

Als ich im Berufswahlprozess stand, stellte ich fest, dass meine Schulfreundin ebenfalls Lehrerin werden wollte. Trotzdem hatten wir unterschiedliche Ansatzpunkte: Sie wollte den Schwachen und weniger Privilegierten Unterstützung bieten – das Soziale stand für sie im Vordergrund. Mir ging es um das Vermitteln von Wissen, ich fand es spannend, Kindern etwas beizubringen. Interessanterweise arbeitet sie heute als schulische Heilpädagogin (in der CH versuchen wir immer noch etwas zu heilen 😉 ) und ich bin in der Begabtenförderung gelandet.

Als wir uns vor ein paar Monaten zum ersten Mal seit 35 Jahren wiedersahen, hatten sich unsere Motivationspunkte ganz entschieden angenähert und wir sehen heute unsere Aufgaben sehr ähnlich. Und beide träumen wir von einer Schule, in der wir Kinder einfach interessengeleitet begleiten können.

So viel mehr als Schulstoff

Die Kinder, die heute in der Schule sind, haben viel mehr Zugang zu Wissen als jene vor 20 Jahren. Sie wachsen oft in einem Umfeld auf, wo ihre Fragen beantwortet werden und vielfältige Inputs auf verschiedenen Kanälen reinpurzeln. Es wäre traurig, wenn sie nichts davon in die Schule einfliessen oder mit der Lehrperson beprechen wollten. Das ist doch kein Grund, sich als Lehrperson bedroht zu fühlen. Wer sich von solchen Kindern genervt fühlt, dürfte sich gern mal in Selbstreflexion üben. Was ist denn da überhaupt die Motivation als Lehrer:in zu arbeiten?

Wenn mir heute Kinder etwas zeigen oder beibringen wollen, freut mich das jedes Mal. Ich habe schon lange nicht mehr den Anspruch, dass ich alles (besser) wissen muss. Das entlastet ungemein. Tatsächlich aber ist es natürlich so, dass ich aufgrund meiner Erfahrung und meiner Übung gewisse Dinge besser kann. Und das ist auch gut so.
Ich mag es, gemeinsam mit meinen Lernenden Dinge herauszufinden, Strategien zu entwickeln und zu vergleichen, was für wen besser funktioniert. Gerade in der Mathematik gibt es oft viel einfachere Lösungswege als das Schulbücher vorgeben (vgl. Mittring).

Was mir als Lehrerin aber auch als Coach meiner jungen Klient:innen in der Praxis wichtig ist, ist das Vermitteln von Arbeitstechniken und die Erarbeitung eines growth Mindsets. Es ist wichtig, dass Menschen ein dynamisches Selbstbild haben und nicht auf gewisse Attribute fixiert sein. Wir alle dürfen wachsen und uns verändern. Das Leben hat so viele Herausforderungen und Chancen für jeden von uns bereit – und wenn ich Kinder darauf vorbereiten und sie für ihren Weg bestärken und ermutigen kann, dann ist meine Arbeit als Lehrperson sinnvoller als jede Auflösung einer binomischen Formel!

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